Seit Russland am 24. Februar sein Militär in der benachbarten Ukraine stationiert hat, sind mehr als 7,2 Millionen Ukrainer*innen aus dem Land geflohen, um Schutz und Sicherheit zu finden. Weitere 7 Millionen Menschen sind im eigenen Land vertrieben.  Die Mehrheit der Geflüchteten sind Frauen und Kinder. Bombardierung und Beschuss von Häusern sowie ziviler Infrastruktur haben seitdem nicht aufgehört. Der Konflikt könnte sich damit zur schlimmsten humanitären Krise entwickeln, die Europa seit Jahrzehnten erlebt hat. Mitte September haben Gebietsgewinne des ukrainischen Militärs große Schäden in den ehemals von russischen Streitkräften besetzten Regionen sichtbar gemacht. Der Bedarf an humanitärer Hilfe in diesen Teilen des Landes ist sehr hoch.

Russland hat inzwischen die Mobilmachung von 300.000 Reservist*innen angeordnet. International Rescue Committee (IRC) fordert einen sofortigen Waffenstillstand und warnt davor, dass eine weitere Eskalation des Konflikts den Bedarf an humanitärer Hilfe in die Höhe treiben und noch mehr Menschen aus ihren Häusern vertreiben wird.

Um das Leben und die Würde der Menschen in der Ukraine zu schützen, muss die Gewalt aufhören. Die Staats- und Regierungschef*innen der Welt müssen dafür sorgen, dass das humanitäre Völkerrecht eingehalten wird. Humanitäre Helfer*innen müssen geschützt werden und Zugang zu den Bedürftigen erhalten.

IRC leistet seit Februar 2022 Nothilfe in Polen und der Ukraine und arbeitet direkt mit lokalen Partnerorganisationen zusammen, um die Bedürftigsten zu erreichen. Sie erhalten unter anderem medizinische Versorgung, Bargeldhilfe sowie Zugang zu wichtigen Informationen zu Hilfsangeboten, Schutz und Evakuierung. Derzeit bereitet sich IRC in der Ukraine auf den Winter vor, da davon auszugehen ist, dass Millionen Menschen angesichts der herannahenden Kälte den Zugang zu Strom, Wasser und Unterkünften verlieren könnten.

Mitarbeiter einer medizinischen Einrichtung in Saporischschja (Ukraine) verteilen die von IRC bereitgestellten medizinischen Hilfsgüter.
Mitarbeiter einer medizinischen Einrichtung in Saporischschja (Ukraine) verteilen die von IRC bereitgestellten medizinischen Hilfsgüter.
Foto: IRC

Was geschieht in der Ukraine?

Berichten zufolge wurden bei den russischen Angriffen über 5.200 Zivilist*innen getötet. Auch die öffentliche Infrastruktur wurde zerstört, so dass Millionen von Menschen weder Zugriff auf Wasser, Strom und Gas haben - und damit auch keine Heizung. Weil Straßen und Brücken unpassierbar sind, können sie keine Geschäfte erreichen, um dort das Nötigste zu kaufen. Mit dem herannahenden Winter suchen viele Familien Schutz in beschädigten Gebäuden, die jedoch für plötzliche Temperaturstürze oder starke Schneefälle nicht geeignet sind.

Das Gesundheitssystem des Landes steht vor dem Kollaps. Krankenhäusern gehen allmählich die Medikamente aus und die Stromversorgung ist unterbrochen. Auch Gesundheitseinrichtungen, darunter ein Entbindungs- und Kinderkrankenhaus, wurden während der Angriffe beschädigt - ein weiterer schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.

Die Eskalation der Gewalt seit Februar folgte jedoch auf einen bereits bestehenden Konflikt: Seit 2014 ist Russland auf ukrainischem Territorium aktiv und annektierte noch im gleichen Jahr die Halbinsel Krim. Seitdem unterstützt Russland pro-russische Separatist*innen im Osten des Landes. Infolge der gewaltsamen Auseinandersetzungen starben bis 2022 bereits über 3.000 Menschen in der Region. Mehr als 850.000 Menschen mussten fliehen und mehr als drei Millionen sind seitdem auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Verteilung von IRC-Hilfsguetern
Seit Februar 2022 leistet IRC Nothilfe in Polen und der Ukraine und arbeitet direkt mit lokalen Partnerorganisationen zusammen, um die Bedürftigsten zu erreichen.
Foto: IRC

Was ist die Ursache für die Eskalation der Spannungen zwischen der Ukraine und Russland?

Die Ukraine hat sich 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für unabhängig erklärt. Seitdem strebt das Land engere Beziehungen zur EU und zur NATO an. Russland sieht darin jedoch eine wirtschaftliche und strategische Bedrohung für seine eigene Sicherheit.

 Was bedeutet der Krieg für die Ukraine?

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die größte und am schnellsten anwachsende Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Wenn der Konflikt weiter anhält, könnte er mehr menschliches Leid verursachen, als der Kontinent in diesem Jahrhundert je gesehen hat. Die Weltgemeinschaft ist Zeuge des Todes unschuldiger Zivilist*innen, der Zerstörung von Häusern und Infrastruktur sowie der massiven Vertreibung von Familien innerhalb und außerhalb der Ukraine.

Die 7 Millionen Vertriebenen innerhalb der Ukraine sind angesichts des anhaltenden Krieges und der bevorstehenden Wintermonate zunehmend gefährdet. Insbesondere diejenigen, die in Häusern ohne Strom und Wasser leben oder in beschädigten Gebäuden Schutz suchen.

Wirtschaftlicher Niedergang
Anhaltende Kämpfe und Gewalt werden die geschwächte Infrastruktur im Land weiter beschädigen. Das bereits durch COVID-19 belastete Gesundheitssystem des Landes ist stark beeinträchtigt und die Wirtschaft des Landes ist drastisch zurückgegangen. Mangel an Lebensmitteln und Treibstoff wird mit großer Wahrscheinlichkeit akut eintreten und öffentliche Dienstleistungen können nicht mehr aufrechterhalten werden.

Geflüchtete in Gefahr
Da sich die Angriffe weiter gegen die Zivilbevölkerung richten, werden immer mehr Ukrainer*innen aus ihren Häusern vertrieben, sowohl innerhalb des Landes als auch über Landesgrenzen hinweg. Bisher sind infolge des Konflikts über 7 Millionen Menschen in Nachbarländer geflohen. Damit zählt die internationale Gemeinschaft  eine Rekordzahl von 31,7 Millionen Flüchtlingen und Asylbewerbern auf der ganzen Welt. Besonders gefährdet sind auch geflüchtete Menschen aus anderen Ländern wie Afghanistan und Belarus, die vor Kriegsausbruch in der Ukraine Zuflucht fanden.

Wie wirkt sich der Konflikt auf Frauen und Mädchen aus?

Die Mehrheit der Geflüchteten aus der Ukraine sind Frauen und Kinder. Zusammen mit den Frauen, die innerhalb der Ukraine vertrieben wurden, sind sie am stärksten von Ausbeutung und Gewalt bedroht.

Frauen und Mädchen, die von der Krise betroffen sind, haben auch zunehmend keinen Zugang zu wichtiger medizinischer Versorgung und sozialen Diensten. Bis Ende des Jahres werden in der Ukraine schätzungsweise 80.000 schwangere Frauen entbinden. Wenn die Krise weiter anhält, werden viele von ihnen keine medizinische Versorgung bei der Geburt haben. Für sie und ihre Kinder stellt dies eine große Gefahr dar.

IRC fordert die internationale Gemeinschaft und führende Regierungschef*innen auf, Hilfe und Schutz für Frauen und Mädchen Vorrang einzuräumen. Dies bedeutet, dass ukrainische Frauen und Mädchen angehört und Frauenrechtsorganisationen in die Koordinierung und Umsetzung der humanitären Hilfe einbezogen werden müssen.

Gefluechtete Frau mit Kindern in Polen
Mehr als 7 Millionen Menschen sind aus der Ukraine geflohen. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. In Polen unterstützt IRC geflüchtete Familien bei der Ankunft in der Fremde.
Foto: IRC

Was sind die Folgen für den Rest der Welt?

Angesichts der Bedeutung der ukrainischen Weizen- und Getreideexporte hat der Konflikt katastrophale Auswirkungen auf viele Regionen, die bereits mit Konflikten und Krisen zu kämpfen haben.

Die UN gaben kürzlich bekannt, dass Somalia kurz vor einer Hungersnot steht. Infolge einer schweren Dürre in Ostafrika und ausbleibenden Nahrungsmittelimporten hungern die Menschen im Land. Über 14 Millionen Menschen in Somalia, Äthiopien und Kenia sind bereits vom Hungertod bedroht - etwa die Hälfte davon sind Kinder. Diese Zahl könnte auf 20 Millionen ansteigen, wenn die Weltgemeinschaft nicht dringend reagiert.

In der Sahelzone hat sich der Hunger so weit ausgebreitet wie seit 2014 nicht mehr. Fast 18 Millionen Menschen leiden akut Hunger.

Im Nahen Osten lässt der Krieg in der Ukraine die Preise für Weizen und Treibstoff in die Höhe schnellen. Syrische Flüchtlinge sind am stärksten betroffen, da viele nicht über das nötige Einkommen verfügen, um die drastisch gestiegenen Lebenshaltungskosten zu decken.

Was können Industrienationen und die humanitäre Gemeinschaft tun?

Die vom Konflikt in der Ukraine betroffenen Menschen müssen geschützt werden.

IRC unterstützt nachdrücklich den Aufruf des UN-Generalsekretärs zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Ukraine. Die UN-Charta muss eingehalten und das humanitäre Völkerrecht muss befolgt werden, einschließlich des Schutzes von Schulen und Krankenhäusern. Die Menschen müssen sich frei bewegen können und humanitären Helfer*innen brauchen Zugang zu Hilfsbedürftigen.

Gleichzeitig muss sich die Welt auf das Schlimmste vorbereiten und sicherstellen, dass Hilfsorganisationen innerhalb und außerhalb der Ukraine über die nötigen Mittel verfügen, um Leben zu retten und Leid zu lindern. Die europäischen Staaten müssen Grenzen offenhalten, damit Menschen weiterhin aus der Ukraine fliehen können. Sie brauchen zudem eine würdevolle Unterstützung im Aufnahmeland sowie uneingeschränkten Zugang zu Asyl.

Schließlich ruft IRC dazu auf, trotz der weltweiten Unterstützung für Geflüchtete aus der Ukraine, Flüchtlinge und Vertriebene aus anderen Krisengebieten nicht zu vergessen. Auch  Menschen in Ländern wie Afghanistan, Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo, Jemen und Syrien benötigen humanitäre Hilfe und ein Ende der anhaltenden Konflikte.

Was muss die Europäische Union tun?

Die europäische Staatengemeinschaft unternimmt die richtigen Schritte, um sich auf geflüchtete Menschen vorzubereiten. Diese Bemühungen müssen jedoch rasch intensiviert und in sinnvolle und konkrete Unterstützung umgesetzt werden. Die EU muss eine sichere Ein- und Durchreise gewährleisten und sich angemessen auf eine humane und wirksame Hilfe vorbereiten. Sie müssen auch den Nachbarstaaten zur Seite stehen, die eine große Zahl Geflüchteter aus der Ukraine aufnehmen.

Und vor allem muss die EU nicht nur ukrainischen Staatsangehörigen visumfreien Zugang und Schutz bieten, sondern Menschen aller Staatsangehörigkeiten und Nationalitäten, die aus der Ukraine kommen und angesichts des Konflikts großen Gefahren ausgesetzt sind.

„Diskriminierung und ungerechte Behandlung von Geflüchteten sind immer untragbar, ganz besonders dann, wenn sich der Konflikt in den Städten verschärft und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht stündlich zunehmen", sagt IRC-Präsident David Miliband.

„Asyl zu beantragen ist ein Menschenrecht. Es ist unsere moralische Pflicht, denjenigen Zuflucht zu gewähren, die um ihr Leben fliehen - unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe oder ihrem Glauben."

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Wie hilft IRC?

IRC arbeitet mit lokalen Partnerorganisationen in der Ukraine, Polen und Moldawien zusammen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es, Hilfsangebote zu unterstützen, die bereits in der Gemeinschaft bestehen und sich mit den örtlichen Gegebenheiten auskennen. Dazu zählen Bargeldhilfen, psychosoziale Unterstützung sowie sichere Aufenthalts- und Lernräume für Kinder. In Deutschland erweitert IRC bestehende Programme in den Bereichen Bildung, wirtschaftliche Integration sowie Schutz und Teilhabe, um auf die Bedarfe Geflüchteter aus der Ukraine in Deutschland zu reagieren.

Vor allem in der Ukraine bereitet sich IRC auf den bevorstehenden Winter vor. In den am stärksten vom Konflikt betroffenen Regionen werden in den Wintermonaten Temperaturen von weit unter Null Grad erwartet – insbesondere im Osten des Landes. In vielen dieser Gebiete wird es nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu Strom oder Gas geben. Gemeinsam mit unseren Partnern ermitteln wir die bedürftigsten Gemeinden und planen, wie wir am besten helfen können.

Erfahren Sie mehr darüber, wie IRC Menschen weltweit hilft, die von Krieg betroffen sind.