Im November 2020 wurden im Norden Äthiopiens, Tigray, das Internet und die Telefonleitungen gekappt. Die Gewalt eskalierte, während der Rest der Welt über die Geschehnisse vor Ort im Ungewissen blieb.
Mulu, Berhan und Azmera, drei Frauen, flohen aus Äthopien in den Sudan. Für die Welt sind ihre Geschichten Zeugnisse von den Schrecken, die bis heute in Tigray andauern.
Mulu
„Wir hatten ein gutes Leben – wir waren dankbar für das, was wir hatten“, sagt Mulu über ihr Leben in Tigray, bevor sie in den Sudan kam.
In Humera handelte Mulus Ehemann mit Waren aus dem Sudan. Beide führten ein glückliches Leben: In ihrem Traumhaus zogen sie ihre zwei Kinder groß.
„Ich backte Injera [Fladenbrot], als der Krieg begann“, erinnert sich Mulu. Vom einen auf den anderen Moment mussten Mulue und ihre Kinder um ihr Leben rennen. Nur ein paar Habseligkeiten konnte sie mitnehmen: „Die Fotos hingen an der Tür, als wir gingen“, sagt sie und hält die Fotos in der Hand, die sie an das zurückgelassene Leben in Tigray erinnern.
„Als wir gingen, explodierte eine Bombe unter dem Dattelbaum, unter dem wir gerade noch gestanden hatten“, sagt sie. „Auf der Flucht trafen wir eine schwangere Frau mit ihrem Mann. Der Ehemann starb auf dem Weg. Wir haben ihn begraben und mussten weiter.“
Mulu und ihre Familie mussten einen Kanister als Boot benutzen, um den Fluss in den Sudan zu überqueren. Mit fast nichts kamen sie in einem Flüchtlingslager an: „Mein kleine Tochter hatte nicht einmal Kleidung", erklärt sie. Nur dank eines Freundes von Mulu, der im Sudan lebt, konnte sie etwas Geld und Babykleidung zusammenbekommen.
Jetzt lebt Mulu im Lager Tunaydbah zusammen mit 60.000 anderen Geflüchteten, die es über die Grenze geschafft haben. In ihren Gedanken ist sie immer bei den zurückgebliebenen Angehörigen ihrer Familie. „Zu leben, ohne zu wissen, wo sich deine Familie aufhält, [lässt dich] in ständiger Sorge“, sagt Mulu. „Ich weiß nicht, wo meine Mutter und meine Schwestern sind. Was meinen Bruder betrifft, habe ich von seinem Tod aus dem Fernsehen erfahren.“
Als Folge des chronischen Stresses hatte sich Mulus Gesundheitszustand verschlechtert. „Von dem Tag an, als der Krieg ausbrach, wurde ich ständig krank“, erklärt sie. Mit Mitteln der Europäischen Union leitet IRC Gesundheitszentren an der Grenze zwischen Äthiopien und dem Sudan. Dort konnte Mulu behandelt werden, sodass es ihr jetzt besser geht.
Nach diesen erschütternden Erfahrungen ist Mulu um ihrer Kinder willen jedoch immer noch hoffnungsvoll. „Wird diese Zeit vorübergehen? Können wir aus dieser Wüste in unsere Heimat zurückkehren? Das ist unsere Hoffnung“, sagt sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck. „Nach all dem, was wir verloren haben, stärkt mich der Gedanke, dass wir unsere Heimat wiedersehen dürfen.“
Sie wünscht sich, dass Frieden herrscht, damit ihre Kinder eine Zukunft haben können. „Ich möchte, dass [meine Kinder] in ihr Heimatland zurückkehren, damit sie zur Schule gehen, und dass der Krieg aufhört, damit wir unsere Familie wiedersehen können", sagt sie.
Berhan
„Das Leben in meinem Dorf war friedlich. Ich hatte ein tolles Hotel und ein riesiges Haus“, erinnert sich die 60-jährige Berhan an ihr Zuhause.
Als die Gewalt ausbrach, wurde ihr Hotel geplündert und ihr Eigentum beschlagnahmt. Berhan versuchte vergeblich, ihre letzten Habseligkeiten aus ihrem Haus zu holen, wurde aber stattdessen gefangen genommen und musste für zwei Monate ins Gefängnis.
Da sie nichts mehr hatte außer dem Pyjama, den man ihr im Gefängnis gab, war Berhan entschlossen, aus Äthiopien zu fliehen. „Selbst wenn ich unterwegs sterben sollte, war das besser, als getötet zu werden“, erklärte sie ihre Entscheidung.
Nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, nahm sie um 3 Uhr morgens ihre Reise durch die Wüste auf, in der Hoffnung, schließlich zu ihrer Familie zu finden. Ein kleiner Junge half ihr, als er sie in die falsche Richtung laufen sah. Er führte sie zur Grenze zum Sudan.
Auf dem langen Weg bildeten sich an Berhans Füßen Blasen und sie bekam starke Krämpfe in den Beinen. „Ich wurde über den Fluss getragen“, beschreibt sie den Moment, als sie die Grenze zum Sudan überquerte. „Meine Beine hatten aufgegeben.“
Im Sudan wurde sie mit ihrer Tochter wiedervereint und erhielt in dem von der EU geförderten Gesundheitszentrum von IRC eine Behandlung. Ihre Gedanken sind jedoch immer noch nicht frei von all der Gewalt, die sie erleiden musste. „Ich bin erleichtert, dass wir nachts einen Platz zum Schlafen haben“, erklärt sie. „Aber wir können nicht ruhig schlafen. Die Dinge, die wir erlebt haben, können wir nicht verarbeiten. Selbst wenn wir versuchen, sie zu vergessen, werden wir die Erinnerungen nicht los.“
Trotzdem hält sie an der Hoffnung fest, irgendwann nach Äthiopien zurückzukehren und mit ihren beiden Söhnen wiedervereint zu werden. „So etwas [wie in Äthiopien] habe ich in meinem Leben noch nie gesehen“, sagt sie und blickt wehmütig in die Ferne. „Ich mache mir Sorgen um meine Kinder.“
Sie wünscht sich, dass Frieden herrscht, damit andere Familien wie ihre wieder so leben können wie früher. „Wenn wir keinen Frieden haben, können wir nichts tun“, sagt sie.
Azmera
„Zu Hause ging es uns gut“, sagt die 30-jährige Azmera*. „Wir waren frei und lebten ein gutes Leben."
In ihrer Heimatstadt Humera arbeitete sie für eine private Organisation und erhielt ein angemessenes Monatsgehalt. Mit dem Gewaltausbruch wurde auch das Eigentum der Organisation geplündert und Azmera hatte keinen Zugriff mehr auf ihr Geld, das auf der Bank lag.
Sie und ihre Familie entkamen, indem sie sich in der Wildnis rund um Humera versteckten. Sie hatten gehofft, dass die Gewalt bald aufhören würde. Doch, nachdem sie nach Humera zurückgekehrt waren, sah Azmera die Opfer aus erster Hand – getötete junge Menschen, die dachten, dass sie endlich außer Gefahr waren. „Es waren nur Zivilisten", sagte sie. "Friedliche junge Erwachsene, alle unbewaffnet.“
Aufgrund ihrer Verletzung am Bein kann Azmera nur schwer längere Strecken zu Fuß zurücklegen. Angesichts der Dringlichkeit ihrer Flucht, kam für sie Aufgeben nicht in Frage. Gemeinsam mit ihrer Tochter machte sie sich auf den Weg in Richtung Sudan. Zwei Tage lang versteckteten sie sich in der Wildnis. Währenddessen wurden sie von Soldaten verfolgt, die jeden gefangen nahmen, der zu fliehen versuchte. Azmera wurde Zeugin davon, wie schwer es schwanger Frauen während der Flucht hatten, und da es unterwegs keine medizinische Versorgung gab, schafften es einige von ihnen nicht.
Nach der Grenzüberquerung in den Sudan hatte Azmera es geschafft, sich und ihre Tochter aus der unmittelbaren Gefahr zu bringen. Doch im Lager Tunaydbah im Ostsudan angekommen, beschäftigt es Azmera, was sie zurückgelassen hat. „Unsere Kinder hatten früher ein besseres Leben, als noch Frieden herrschte. Meine Tochter ging früher in die Vorschule“, sagt sie. Sie fing an, sich Sorgen zu machen, welche Auswirkungen die Vertreibung und die Flucht auf ihre Tochter hatten.
Azmera hat festgestellt, dass die psychische Gesundheit ihrer Tochter sich verbessert hat, seit sie die von der EU geförderten Schutzräume besucht. „Wenn sie nach Hause kommt, redet sie nur noch über die Schule“, sagt sie, während sie ihre Tochter anlächelt. „Sie hat mit ihren Depressionen wirklich geholfen.“
Trotz der aktuellen Umstände blickt Azmera mit voller Hoffnung auf die Zukunft ihrer Tochter. Sie möchte, dass in Tigray wieder Frieden herrscht, damit ihre Tochter eines Tages wieder zur Schule gehen kann. „Ich hoffe, sie wird eine Karrierefrau, die der tigrayischen Gemeinschaft hilft“, sagt sie und schaut ihre Tochter liebevoll an. „Nicht nur der tigrayanischen Gemeinschaft, sondern der ganzen Welt.“
Gemeinsam mit der Generaldirektion Civil Protection and Humanitarian Aid Operations der EU leisten wir lebensrettende Unterstützung für Menschen auf der ganzen Welt, die von Konflikten und Katastrophen betroffen sind.