Paul Blow: Illustrationen über die gefährlichste Migrationsroute
Britischer Künstler stellt für IRC die Geschichten von Migrant*innen auf der zentralen Mittelmeerroute dar.
Britischer Künstler stellt für IRC die Geschichten von Migrant*innen auf der zentralen Mittelmeerroute dar.
Die zentrale Mittelmeerroute ist eine der gefährlichsten Flucht- und Migrationsrouten. Sie startet südlich der Sahara, verläuft durch die Wüsten von Niger, über Libyen und das Mittelmeer nach Italien.
Jeder Schritt ist gefährlich. Die Verschärfung der Grenzkontrollen in den vergangenen Jahren hat Menschen nicht davon abgehalten, Sicherheit und ein besseres Leben zu suchen. Stattdessen legen sie ihr Leben in die Hände von Schmugglern oder Menschenhändlern und begeben sich in weitere, oft unvorhersehbare, Gefahren.
Warum nehmen sie diese Risiken auf sich? Wie fühlt es sich an, seine Familie und Heimat zu verlassen?
Wir haben Gespräche mit Menschen entlang der Route geführt – in Mali, Niger, Libyen und Italien. Wir wollten erfahren, welche Hoffnungen diese Männer und Frauen für ihre Zukunft hegen und wie sie trotz aller Widerstände weitermachen.
Illustrator Paul Blow zeigt, wie ihre Erlebnisse aussehen könnten.
Jeder Mensch auf der Mittelmeerroute hat seine eigenen Gründe, warum er sein Land verlassen hat. Was alle verbindet: Hoffnung – auf ein Leben ohne Gefahr und Gewalt, ohne Armut, die Aussicht, auf eine bessere Zukunft und der Wille, die daheimgebliebene Familie besser unterstützen zu können.
„Ich denke an meine Kinder und die Kinder meiner Geschwister. Sie können nicht zur Schule gehen. Wo ich herkomme, kümmern sich die Jüngsten um Schafe und Kühe. Ich bin weggegangen, damit ich die Ausbildung meiner Kinder finanzieren kann. Dank meiner Arbeit hier können sie studieren. In meiner Heimat würde ich nicht genug dafür verdienen“, erklärt der 40-jährige Hassan*, der aus dem Tschad nach Libyen kam.
Die zweifache Mutter Obioma verließ Nigeria, um nach Niger zu kommen: „Wenn die Leute mich auf der Straße sehen, bezeichnen sie mich als 'Fremde'. Sie sagen: 'Du sollst in dein Land zurückkehren‘. So etwas muss man ignorieren. Dieses Leben ist sehr hart, aber ich muss für meine Familie sorgen“, erklärt die 27-Jährige.
Die Kamerunerin Flora ist ebenfalls 27 Jahre alt. Sie lebt aus ähnlichen Gründen in Niger und plant, über Algerien und Marokko nach Europa zu gelangen. „Ich bin mit dem Ziel abgereist, ein besseres Leben zu führen. Wenn ich in mein Heimatland zurückkehre, wäre das wie eine Zeitverschwendung. Aber ich will arbeiten. Ich will ein gutes Leben haben.”
Frauen begeben sich oft auf diese gefährliche Reise, um Missbrauch und häuslicher Gewalt zu entkommen. Alia machte eine Ausbildung zur Tierärztin, als sie beschloss, Sudan zu verlassen. „Ich bin mit meiner 11-jährigen Tochter geflohen, weil ihr Vater an ihr eine Genitalverstümmelung vornehmen wollte. Er ist ein drogenabhängig. Seit ich ihn verlassen habe, droht er damit, mich und meine Tochter umzubringen.”
Libyen hat ihnen nicht den Schutz gebracht, den sie brauchen. Ein libyscher Mann drohte Alia, er würde ihre heute 14-jährige Tochter entführen, wenn er sie nicht heiraten dürfe. Auch der Ex-Mann hat versucht, die beiden ausfindig zu machen. Er kam sogar zu der Farm, auf der Alia lebte und arbeitete. „Zum Glück hat der Wachmann behauptet, dass dort keine Sudanes*innen lebten.“
Alia erhält jetzt psychologische Unterstützung in Libyen. Auch plant sie ihre Weiterreise nach Italien. „Von dort aus möchte ich einen Weg nach Kanada finden, wo ich mein Studium abschließen und als Tierärztin arbeiten könnte.“
Die Reise macht einsam und fordert einen hohen Preis von jedem, der sich auf sie einlässt. Flora beschreibt das Gefühl der Isolation: „Es war sehr hart. Ich war allein und sehnte mich nach jemandem, mit dem ich während der Reise reden und einen Plan machen konnte.“
Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind, bewahren Fotos ihrer Familien auf. Sie klammern sich an Erinnerungen fest. Obioma sagt, ein Foto ihrer Kinder sei das Wichtigste, das sie habe. „Sie fehlen mir am meisten. Wenn ich sie vermisse, schaue ich mir dieses Bild von ihnen an“
Auf der Reise sind Frauen und Mädchen besonders von sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung bedroht. Berichten zufolge haben fast alle Frauen und Mädchen auf der Route über das zentrale Mittelmeer bis nach Libyen geschlechtsspezifische Gewalt erlebt.
Die 27-jährige Marie aus Kamerun berichtet von ihrer Reise nach Niger: „Ich wurde vergewaltigt und beobachtete viel Leid. Aber ich wollte mein Ziel erreichen und reiste weiter. Ich versuche, diese Erlebnisse zu verdrängen. Wir wurden auch ausgeraubt. Wir dachten, wir würden an einem sicheren Ort schlafen, aber wir waren überhaupt nicht sicher.“
Flora ergänzt: „Frauen und Mädchen sind Gewalt ausgesetzt. Sie sind nie sicher. Es ist sehr gefährlich.“
Dazu kommt das Risiko von Ausbeutung, Menschenhandel und Prostitution. Die 40-jährige Grace aus Togo wurde in Niger angeworben. „Ich traf Frauen, die Sexarbeiterinnen waren. Sie mussten es tun. Sie hatten keine Wahl. Sie rieten mir, es auch zu tun. Sei es auch nur für 2 bis 6 Monate. Sie sagten, ich könne viel Geld verdienen und in mein Land zurückkehren. Aber ich lehnte ab. Ich könnte das nicht.“
Viele Frauen und Mädchen entlang der Route berichten, dass sie von den Schmugglern, die sie bezahlt haben, um sie in Sicherheit zu bringen, angegriffen und vergewaltigt wurden. Jidda, ein nigerianischer Mann, der über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien gelangte, berichtet von seinen Beobachtungen in Libyen: „Den Schmugglern ist egal, ob die Frauen schwanger sind. Es ist ihnen egal, ob sie jung oder alt sind. Ein Fahrer sagte zu einem Mädchen, sie solle ihn oral befriedigen. Viele Frauen wurden schwanger, ohne zu wissen, wer der biologische Vater des Kindes ist. Verstehen Sie, was ich sage? Es ist schrecklich, einfach schrecklich.“
Die libysche Gesetzgebung verweigert alleinstehenden schwangeren Frauen medizinische Hilfe. Sie müssen von einem Mann begleitet werden oder eine Heiratsurkunde vorweisen können. In einigen Fällen kann dies tödlich sein. International Rescue Committee und das Danish Refugee Council bieten unter anderem prä- und postnatale Betreuung vor Ort an, um werdende Mütter zu schützen
Der Weg nach Libyen führt durch die Sahara. Männer, Frauen und Kinder werden auf die Ladeflächen von Lastwagen gestapelt und aufgefordert, sich festzuhalten. Wer runterfällt, ist dem Risiko ausgesetzt, in der Wüste zurückgelassen zu werden.
Jidda beschreibt die Reise: „Die Schmuggler sind sehr organisiert. Wenn man aus dem Bus steigt, wartet bereits jemand. Es ist illegal die Sahara ohne die nötigen Papiere zu überqueren. Sie wollen nicht vor der Polizei oder Einwanderungsbehörde auffliegen. Bei jedem Schritt ist Eile geboten. Auf den offenen Lastwagen geben nur Stöcke zwischen den Beinen Halt. Man muss sich daran klammern. Einige fielen runter und starben. Der Fahrer hielt nicht an. Es gibt kein Wasser. Die Sonne brennt. Der Wind ist heiß wie Feuer.
„Man hört Menschen weinen, jammern. Tage, Nächte. Die Fahrt wird nicht unterbrochen. Sie misshandeln dich. Du hast keine Stimme. Du siehst Menschen in Ohnmacht fallen. Einige weinen, weil sie durstig sind. Ich habe drei Menschen wiederbelebt.“
In der Wüste überfallen Wachen und Milizen die Reisenden und verlangen Geld. Victor, ein Nigerianer, der sich jetzt in Italien aufhält, erklärt: „Es gab viele Kontrollpunkte. Sie sammelten all unser Geld ein und teilten brutal Schläge aus. Als unser Geld weg war, vergewaltigten sie in einigen Fällen die Frauen. Wir haben viele Gräueltaten gesehen“
Bewaffnete Gruppen in Libyen nehmen willkürlich Neuankömmlinge fest. Sie zwingen Migrant*innen und Geflüchtete, ihre Eltern Zuhause anzurufen und um Geld für die Freilassung zu bitten. Wer keins auftreiben kann, wird misshandelt.
Jidda ist es gelungen, der Haft in Libyen zu entkommen: „Sie durchsuchten uns, suchten überall gründlich. Wenn sie das Gefühl hatten, belogen zu werden, schlugen sie uns mit Stöcken. Sie nahmen uns die Telefone weg und alles, was wertvoll war. Ich hörte, dass Menschen entführt und geschlagen wurden, bevor man sie ans Telefon setzte, um die Eltern anzurufen. Wenn diese ihre weinenden Kinder hörten, schickten sie Geld. Ich glaube, die meisten Angehörigen hatten lange nichts mehr von ihren Kindern gehört und wussten gar nicht, ob diese noch lebten.“
Victor teilt eine ähnliche Geschichte. „Oft schlugen die Banden ihre Gefangenen zweimal pro Tag. Sie behaupteten, nicht die verlangte Summe erhalten zu haben. Einige wurden als Sklav*innen verkauft. Andere konnten nicht zahlen und wurden festgehalten – bis zu 400 Personen an einem Ort. Wir sahen eine Menge Gräueltaten. Sie erschossen einen nigerianischen Jungen. Einige der Libyer kamen nachts, betrunken, nahmen Frauen mit und vergewaltigten sie.
Viele Menschen begeben sich auf die gefährliche Reise, um Arbeit zu suchen. Sie werden oft ausgebeutet.
Alia arbeitet als Reinigungskraft in Libyen. Sie wurde mehrfach nicht für ihre Arbeit bezahlt. „Ich putzte. Manchmal arbeitete ich zwei oder drei Tage lang. Sie baten mich, Kühlschränke zu verschieben, um darunter zu putzen. Am Ende erhielt ich keinen Lohn. Sie sagten, ‚Gehen Sie einfach weg, es gibt kein Geld!‘.
„Ich habe Glück, denn ich kann Arabisch sprechen. Andere können sich nicht mit ihren Arbeitgebern verständigen. Da ist dieser Mann aus dem Tschad. Er arbeitet sehr früh am Morgen. Wenn ich um 7 Uhr aufwache, arbeitet er schon. Bis 22 oder 23 Uhr abends pflanzt er im Garten. Er arbeitet ununterbrochen. Selbst die Kleidung, die er trägt, wechselt er nie. Sie geben ihm nicht den Lohn, den er verdient hat, sondern misshandeln ihn. Das ist unmenschlich“.
Der 23-jährige Fatu aus Sierra Leone machte ähnliche Erfahrungen in Libyen. „Ich habe einen Monat lang gearbeitet ohne Lohn zu erhalten. Und ich kann meine Arbeitgeber nicht verklagen. Es ist ihr Land.“
Die COVID-19-Pandemie hat die Lage von arbeitssuchenden Geflüchteten und Migrant*innen verschlimmert. Die Ausgangssperre verringert das Arbeitsangebot und führt zu einer prekären Situation für Menschen ohne Ersparnisse oder Einkommensmöglichkeiten
Oftmals brechen Menschen mit der Absicht auf, ihre Reise in Libyen zu beenden. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen und Ausbeutung dort, machen sich viele erneut auf den Weg: nach Europa. Italien und Malta liegen Libyen am nächsten, lassen sich aber nur durch eine gefährliche nächtliche Überquerung des Mittelmeeres erreichen.
Viele schaffen es nicht - 2019 kamen 1.319 Menschen bei der Überfahrt ums Leben oder werden vermisst. Andere werden von der libyschen Küstenwache abgefangen, die von der Europäischen Union unterstützt wird. 2020 wurden fast 5.500 Menschen nach Libyen zurückgebracht. Die meisten von ihnen wurden in inoffiziellen Gefängnissen inhaftiert – ohne Zugang zu irgendeiner Unterstützung.
Der 27-jährige Sudanese Asim versuchte im April 2019 das Mittelmeer zu überqueren: „In der Nähe von Malta empfing uns ein Schiff – dachten wir. Sechs oder sieben Männer sprangen ins Wasser und schwammen dem Schiff entgegen. Sie ertranken. Vier Tage lang saßen wir in unserem Boot ohne Wasser oder andere Hilfe zu erhalten. Die Leute, die mit mir auf dem Boot waren, verdursteten.“
Schließlich wurde Asim nach Libyen zurückgebracht und kam in ein Gefängnis. Als einziger seiner Mitreisenden schaffte er es, wieder auf freien Fuß zu kommen. Nun plant er seine Rückkehr in den Sudan.
Auch Jidda wagte es, das Mittelmeer zu überqueren. „Es ist ein großes Risiko - eine Frage von Leben und Tod. Aber ich sah keinen anderen Ausweg. In dem Boot saßen 120 Menschen: Frauen, Kinder, Männer. Ich kann nicht schwimmen. Wir wurden um 4 Uhr morgens rausgeschickt. Manche saßen auf der Kante, ein Bein im Meer und eines im Boot.
„Wir sahen nichts als Wasser. Wenn jemand panisch wurde, versuchten wir die Person zu beruhigen. Wir waren 7 Stunden auf See bis wir ein kleines Flugzeug über uns kreisen sahen. Wir hofften, dass wir gefunden worden sind.
Jidda und alle anderen an Bord wurden gerettet und nach Italien an Land gebracht.
In Italien versucht Jidda eine reguläre Arbeit zu finden, ohne bisher Asyl erhalten zu haben. Durch die COVID-19-Pandemie gibt es weniger Verdienstmöglichkeiten. Die wenigen verfügbaren Jobs, z.B. auf Bauernhöfen, bieten oft keine Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus.
Victor schaffte es auch nach Italien, wo er einen Job als Schulbuch-Verkäufer bekam. Mit Beginn der Ausgangssperre hat er ihn wieder verloren. Gegen Langeweile und Einsamkeit hilft ihm seine große Leidenschaft: das Lesen. „Ich bin so froh, noch am Leben zu sein. Ich habe viele Freunde verloren: Einige in Libyen, einige in der Wüste, einige im Mittelmeer. Im Vergleich zu den Strapazen und dem Leid, das ich auf meiner Reise nach Italien erfahren habe, ist der Kontaktverzicht ein kleines Übel.“
Entlang der Route haben IRC, Danish Refugee Council (DRC), Mixed Migration Centre (MMC) und Start Network das Mediterranean Mixed Migration Consortium gegründet, um Migrant*innen zu helfen. In Libyen reicht unsere Arbeit von psychologischer Unterstützung zur Bereitstellung von Unterkünften. In Niger bieten unsere Teams Rechtsberatung und kostenlose Anrufe nach Hause. Darüber hinaus stellen wir besonders gefährdete Menschen, vor allem Frauen, Bargeldhilfen zur Verfügung, die es ihnen ermöglicht, Lebensmittel und andere lebensnotwendige Güter zu kaufen. In Italien betreibt IRC die Online-Plattform Refugee.Info, deren Moderator*innen Neuankömmlinge mit Informationen versorgen und ihre Fragen beantworten. Der Service hilft ihnen, das neue Umfeld und geltende Regeln, z.B. in Bezug auf den Asylprozess verstehen zu können.
Gleichzeitig versorgen mobile Einheiten von DRC Menschen, die auf der Straße leben und während der Covid-19-Pandemie keinen Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischer Hilfe und Unterkünften haben.
MMC bietet unabhängige Daten, Forschungsergebnisse, Analysen und Expertise zum Thema Migration an. Auf der zentralen Mittelmeerroute hat MMC drei Mal vertreten: In Westafrika, Nordafrika und Europa. Dort werden Datenerhebungen zur Migration durchgeführt. Die Mixed Migration Monitoring Initiative (4Mi) greift auf ein Netzwerk von Beobachter*innen zurück, die den Zugang zur Migrationsbevölkerung haben, der NGOs und Forschungseinrichtungen oftmals fehlt.
Start Network stellt einen Nothilfefonds bereit, mit dem neue und unvorhergesehene Bedürfnisse auf der Route gedeckt werden können. Seit August 2018 wurde damit mehr als 45.000 Menschen geholfen.
Das Mediterranean Mixed Migration Consortium ist ein von DFID finanziertes Programm, das Geflüchtete und Migrant*innen entlang der zentralen Mittelmeerroute unterstützt.
*Namen wurde zum Schutz der Betroffenen geändert