Eingeschlossen in einem fensterlosen Raum, geschlagen und mit Drogen betäubt, wurde Suamhirs mehrmals am Tag vergewaltigt, bevor die Polizei das Haus, in dem er als Geisel gehalten wurde, durchsuchte. Der Teenager wurde von der US-Einwanderungs- und Zollbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) festgenommen und später in unzähligen Pflege- und Gruppenheimen untergebracht, in denen er Mobbing, Diskriminierung und weitere Traumata erlebte.

„Niemand hat mich gefragt: ‚Was brauchen Sie?, erinnert sich Suamhirs. Er ist inzwischen 29 Jahre alt und arbeitet als Psychologe an einem IRC-Programm im Bundesstaat Washington, das Betroffene von Menschenhandel unterstützt. „Noch immer scheitert die USA daran, den aus Mittelamerika fliehenden Familien diese einfachen Fragen zu stellen: Was ist passiert? Warum sind sie auf der Flucht? Was brauchen Sie?‘“

Suamhirs Piraino-Guzman, 28, in seinem Haus in Seattle.
Suamhirs Piraino-Guzman, 28, in seinem Haus in Seattle. Als Programmkoordinator von IRCs „Anti-Trafficking Response Network“ reist er durch die USA und setzt sich für Betroffene von Menschenhandel ein. Suamhirs besitzt vier Studienabschlüsse und erhielt kürzlich ein Stipendium, um seine Lizenz für Verhaltenspsychologie im Bundesstaat Washington zu erwerben.
Foto: Andrew Oberstadt/IRC

Kinder unterstützen, die von ihren Familien getrennt sind

Seine Samstage verbringt Suamhirs mit Teenagern aus Zentralamerika, diean der Grenze zur USA von ihren Familien getrennt wurden. Ich möchte ihnen helfen, eine normale Kindheit zu haben, sagt er. Ich koche Gerichte, die ihre Eltern für sie zubereiten würden. Wir spielen Fussball, gehen an den Strand und lernen die US-amerikanische Kultur und die englische Sprache kennen.

Suamhirs hilft ihnen auch zu verstehen, dass sie an ihrer gegenwärtigen Situation nicht schuld sind. Die Kinder fragen ihn: Wie gehe ich mit den Gedanken um... nicht willkommen zu sein, nicht gewollt zu werden, nicht geliebt zu werden? Er sagt ihnen, dass ihre Familien sie lieben und dass es in Ordnung ist, sich so zu fühlen, dass es in Ordnung ist, zu weinen.

Suamhirs bereitet Essen in der Küche zu
Suamhirs arbeitet an Wochenenden ehrenamtlich mit Kindern, die an der US-Grenze von ihren Familien getrennt wurden. Er kocht zentralamerikanisches Essen, nimmt die Kinder auf Exkursionen mit und hilft ihnen bei der Vorbereitung auf Gerichtsverhandlungen.
Foto: Andrew Oberstadt/IRC

Suamhirs ist es wichtig, dass die Kinder sich trotz der Trennung mit ihren Eltern verbunden fühlen. Er erzählt ihnen nie all die Dinge, die ihm widerfahren sind, aber ist mit der Veröffentlichung auf unserer Website einverstanden: „Ich erzähle meine Geschichte, weil ich die Menschen inspirieren möchte, diese Situation zu ändern, sagt Suamhirs. Einwandererfamilien kommen nicht in die USA, weil sie sich dazu berechtigt sehen. Sie kommen hierher, um Schutz zu suchen; um ihr Leben zu verbessern. Wir stellen nicht die richtigen Fragen, weil unser Einwanderungssystem sie unter Generalverdacht stellt“, sagt Suamhirs.

Suamhirs hat schreckliche Dinge überwunden und es geschafft, für seine Geschichte ein glückliches Ende zu finden... das Gleiche wünscht er sich für die Kinder, die darauf warten, wieder mit ihren Eltern vereint zu werden, an einem sicheren Ort, der Hoffnung für die Zukunft bietet.

Entführt

In Honduras begann ich im Alter von 9 Jahren zu arbeiten, um meine Mutter und meine drei Brüder zu unterstützen. Zuerst verkaufte ich Lebensmittelartikel. Eines Tages klopfte ich an die falsche Tür. Es war das erste Mal, dass ich sexuell missbraucht wurde. Ich ging weinend aus dem Hauszur Bushaltestelle, ohne T-Shirt, weil sich mein Angreifer damit gesäubert hatte.

Fünf Jahre später begegnete ich den Menschenhändlern.

Am 3. Januar 2004 arbeitete ich als Kellner in einer Pizzeria. Zwei Männer, die ich vom Sehen kannte, setzten sie sich an einen meiner Tische. Sie bestellten, sie aßen, und dann gingen sie. Etwa eine Stunde später trat ich den Heimweg an. Auf dem Weg zur Bushaltestellekamen die Männer auf mich zu.

Sie begannen, mit mir über normale Dinge zu reden. Dann wurde das Gespräch sexuell, bis ich mich unglaublich unwohl fühlte. Ich lief weg bis ich ein nasses Hemd über Mund und Nase und ein Messer an meiner Seite spürte. Dann verlor ich das Bewusstsein.

Ich wurde in einen Lieferwagen geworfen undkonnte nur noch an meine Familie denken. Was würde mit ihnen geschehen? Ich war der Versorger und brachte das Essen auf den Tisch.

Mir wurde ein Tropf in den Arm gesteckt. Jedes Mal, wenn ich aufwachte, haben sie mich geschlagen oder mir das nasse Hemd über Mund und Nase gestülpt und ich schlief wieder ein.

„Sie kamen, um ein Kind zu vergewaltigen“

Ich weiß nicht, wie lange meine Reise in die USA dauerte. Meine erste Erinnerung nach dem Aufwachen war ein übler Geruch. Zu meinem Entsetzen war es mein eigener. Ich fing an zu schreien und gegen die Wände zu klopfen. Die beiden Männer kamen in den Raum, schlugen mich und ich wurde ohnmächtig.

Als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, dass mich jemand berührte. Man hatte mich gewaschen. Neben mir im Bett lagen ein Mann und eine Frau, die meinen Körper betrachteten. Der Mann stand auf und ging zur Tür, wo einer der Menschenhändler stand. Er zog zusammengerollte Geldscheine aus seiner Tasche. Mir war klar, dass ich gerade gekauft worden war.

Ich wachte in einem anderen Raum auf, dunkler und ohne Fenster. Ein Mann und eine Frau kamen in mein Zimmer und sagten in gebrochenem Spanisch: „Du wirst alles tun, was wir verlangen. Sonst stirbt ihre Familie. Sie kannten die Namen meiner Mutter und meiner Brüder.

Ich versuchte, meine Familie am Leben zu erhalten. In den nächsten sechs Monaten kamen täglich mindestens vier Leute in mein Zimmer. Manchmal waren es 13 oder 14 an einem Tag. Sie alle kamen, um ein Kind zu vergewaltigen.

Ich erhielt drei Teller Essen am Tag. Man gab mir Viagra und Kokain. Nach einigen Wochen begann ich zu Widerstand zu leisten. Ich weigerte mich, die Pillen zu nehmen. Ich weigerte mich zu essen, weil sie anfingen, die Drogen in mein Essen zu mischen. Nachdem ich einige Tage nichts gegessen hatte, fing ich an, zu halluzinieren. Ich begann, mit meiner Familie zu sprechen, ich begann, mit meinem besten Freund zu reden. Er machte Witze, als ob ich wieder in Honduras wäre.

Ich dachte oft über Selbstmord nach. Eines Tages bastelte ich ein Messer aus einer Bierdose, die ein Mann in meinem Zimmer zurückgelassen hatte. Ich bat meine Familie um Verzeihung und begann, mich selbst zu verletzen.

Die„Kältekammer“

Am 27. Juli 2004 klopfte es plötzlich und laut an die Tür. Ich schlich mich unter mein Bett, als ich Schüsse hörte. Ich spürte den Boden vibrieren als die Polizei in mein Zimmer stürmte.

Ein Polizist richtete seine Waffe auf mich, bis er merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Er brachte mich nach draußen. Dort waren 100 Polizeiautos, ein Hubschrauber, ein Feuerwehrauto und Krankenwagen. Ich hätte mich sicher fühlen sollen, aber ich wusste, dass ich nicht befreit war.

Ich wurde in ein Krankenhaus in San Diego gebracht. Die Menschenhändler hatten mich nach Kalifornien gebracht. Nachdem die Ärzt*innen herausgefunden hatten, dass ich mir meine Schnittwunden selbst zugefügt hatte, wiesen sie mich in eine psychiatrische Klinik ein. Man gab mir Schlafmittel. Niemand sagte mir, warum ich dort war, was die Medikamente waren oder was als Nächstes geschehen würde.

Suamhirs war der jüngste nationale Sicherheitsberater der Obama-Regierung
2015 wurde Suamhirs vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama in den „U.S. Advisory Council on Human Trafficking“ berufen. Er war der jüngste nationale Sicherheitsberater, der je von der Obama-Regierung ernannt wurde.
Foto: Andrew Oberstadt/IRC

Ein Sozialarbeiter in der Klinik rief den Kinderschutzdienst an, um mich in eine Pflegefamilie zu vermitteln. Sie rief auch das Heimatschutzministerium an, damit ich als Opfer von Menschenhandel Unterstützung bekommen konnte.

Stattdessen wurde ich der US-Einwanderungs- und Zollbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) übergeben. In Brownsville, Texas, hielt man mich vier Tage lang in einer Haftanstalt fest.

Es fühlte sich wie ein eiskalter Käfig an. Es war eiskalt. Deshalb nennen die Leute diesen Ort die „Icebox“. Man verarbeitet seine Emotionen nicht, weil man nur an die Kälte denken kann. Ich bin dem Menschenhandel nicht entkommen - ich war wieder an demselben dunklen Ort, ohne die Möglichkeit, ihn zu verlassen.

Ich sah Kinder, die auf dem Betonboden schliefen, mit Rettungsdecken zugedeckt. Einige Kinder mussten ihre teilen. Wir waren mindestens 30; niemand war älter als 16 Jahre. Da war ein höchstens 11 Jahre altes Kind aus El Salvador, das ständig Mama, Mama, Mama, Mama, soy yo schrie. Mama, Mama, Mama, ich bin's.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Kind aus Mexiko, das mir von Kindern erzählte, die gehen dürfen. Sie seien wie eine Kuh, die die Ranch verlässt. Sie gehen, um zu sterben. Keinem von uns wurde gesagt, was als Nächstes passieren würde.

Ich war die Kuh

Drei oder vier Tage später war ich die Kuh, die die Ranch verließ. Ich wurde in einer anderen Einrichtung untergebracht. Dort wurde mir gedroht, dass ich zurück in die „Icebox“ müsse, sollte ich mich nicht an die Regeln halten. So wie zuvor die Menschenhändler zu mir sagten, dass sie meine Familie töten würden, wenn ich nicht täte, was sie von mir verlangen.

Nach einem Monat wurde ich zurück nach San Diego beordert und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Der Richter war der Ansicht, dass ich, weil ich so oft vergewaltigt worden war, wahrscheinlich anderen Gewalt antun würde. Wieder hatte ich das Gefühl, dass ich für etwas Schreckliches, das mir angetan worden war, kriminalisiert wurde. Niemand hat mich gefragt, was ich brauchte oder was ich wollte. Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein; ich wollte nie in die USA kommen, ich wollte nach Hause gehen.

Zurück in San Diego kam ich in ein Heim und dann in eine Pflegefamilie. Mein Pflegevater mochte Einwander*innen nicht. Zunächst wusste er nicht, dass ich auch einer war. Einen Monat später rief mein Sozialarbeiter an, um ihn an meinen Termin bei einem Anwalt zu erinnern. Der Pflegevater hielt mich für einen Illegalen und brachte er mich an die Grenze zu Mexiko und übergab mich der Grenzpatrouille.

Plötzlich befand ich mich wieder in ICE-Gewahrsam. Nach drei oder vier Stunden merkte jemand, dass es sich um einen Fehler handelte. Die Behörde rief einen Sozialarbeiter an, der mich abholte. Ich wurde bei einer anderen Pflegefamilie untergebracht.

Die Bundesbehörden, die meinen Fall untersuchten, fanden meine Mutter. Sie dachte, ich sei tot. Ich war so froh, dass sie am Leben war. Es war schwierig, mit ihr in Kontakt zu bleiben, weil es viel kostet, in Honduras anzurufen. Ich durfte nur 20 Minuten pro Woche mit ihr sprechen.

Ich musste gegen die Menschenhändler aussagen, aber ich hatte schreckliche Angst. Das waren die Leute, die mich verkauft haben, die meine Familie bedroht haben. Ich sagte der Staatsanwaltschaft, dass ich nicht aussagen wolle. Sie versprachen, wenn ich es täte, würden die Menschenhändler ins Gefängnis kommen und ich könne nach Hause gehen.

Aber das ist nicht geschehen. Meine Mutter unterschrieb Papiere auf Englisch, von denen sie nicht wusste, dass sie ihr dieErziehungsberechtigungentziehen würden.Im Alter von 16 Jahren war ich Vollwaise.

Hola! Heißt Hoffnung

Ich liebe meine Mutter und ich liebe meine Brüder. Aber ich kann Ihnen sagen, dass sich mein Leben seit der Entführung komplett geändert hat. Unsere Beziehung hat sich verändert. Man hat oft versuchen mich zu brechen, aber ich habe immer wider Hoffnung und Liebe gefunden.

Jetzt lebe ich in Seattle. Ich bin US-amerikanischer Staatsbürger. Hier gehe ich die Straße entlang und sehe Schilder mit der Aufschrift „Refugees Welcome“. Ich sehe Menschen, die sich für geflüchtete Menschen engagieren und sich gegen eine grausame und unmenschliche Politik aussprechen.

 

Suamhirs mit seinem Welpen Lilly
Suamhirs mit seinem Welpen Lilly. Der Hund ist darauf trainiert, Epilepsien zu erkennen und bei anderen gesundheitlichen und emotionalen Bedürfnissen zu helfen. 2014 wurden bei Suamhirs Rückenmarkstumore diagnostiziert.
Foto: Andrew Oberstadt/IRC

Das Schönste erlebte ich einen Samstag am Strand. Dort gehe ich samstags mit dem Jungen hin, den ich als Mentor betreue. Da war ein kleiner amerikanischer Junge im Wasser, der ihm ständig „Hi, hi, hi!“ zurief. Der von mir betreute Junge sprach kein Englisch und verstand ihn nicht. Ich erklärte dem Jungen im Wasser, warum er keine Antwort erhielt und er sagte: „Oh, okay.“ Dann sagte er: „Hola!“ Dieser kleine Moment hatte so viel Menschlichkeit, mehr als ich jemals jemandem geben oder erklären könnte.

Es gibt ein Zitat von Martin Luther King, das mir immer im Gedächtnis geblieben ist: Mache Karriere in Menschlichkeit. Engagiere dich für Gerechtigkeit. Das wird eine größere Persönlichkeit aus dir machen, eine größere Nation aus deinem Land und eine schönere Welt, in der du leben kannst.

Suamhirs Piraino-Guzman war jahrelang Programmkoordinator für das Washington Anti-Trafficking Response Network  beim International Rescue Committee in Seattle. 2015 wurde er von Präsident Barack Obama in den „U.S. Advisory Council on Human Trafficking“ berufen.

Suamhirs hat 2018 seinen jüngeren Bruder Jordi wiedergetroffen. Jordi war von den US-Einwanderungsbehörden festgenommen worden. Er floh aus Honduras, wo er und seine Familie wegen Suamhirs früherer Arbeit als nationaler Sicherheitsberater bedroht wurden. Ein Bundesrichter bestätigte Jordi das Recht, in den Vereinigten Staaten Asyl zu beantragen. Er lebte mit Suamhirs zusammen, während sie auf eine Entscheidung in seinem Fall warteten.