Der Weltflüchtlingstag 2024 erinnert an die weltweit mehr als 120 Millionen auf der Flucht und daran, menschliche Schicksale nicht auf eine Zahl zu reduzieren. Sie alle mussten ihr Zuhause verlassen, in der Hoffnung eins zu finden. So vielfältig wie die Biographien sind die Assoziationen, die Menschen mit dem Wort „Zuhause” verbinden. Manchen hat ein Sportverein beim Ankommen in einem neuen Umfeld geholfen, anderen die Musik. Beide Aspekte feiern wir mit unserer Kampagne „Football’s Coming Home”.
Musik und Ausstellung zum Thema „Our Home”
In Kollaboration mit dem Community Radio Refuge Worldwide hat International Rescue Committee an der Fête de la Musique in Berlin am 21. Juni teilgenommen. Neben Live-Musik gab es einen Kicker sowie eine Ausstellung von IRC und Maša Stanić. Sie hat neun Menschen porträtiert, die im Fußball ein neues Zuhause gefunden haben.
Neben diesem Auszug aus dem Gespräch der Künstler*innen könnt ihr die gesamte Show bei Refuge Worldwide hören.
TRISHES: Mein Name ist Trish. Als Künstlerin nenne ich mich TRISHES. Ich mache Musik und visuelle Kunst. Ich setze mich auf digitalen Kanälen für soziale Gerechtigkeit ein. Mit meinem Freund Andre Henry, der Autor, Aktivist und Musiker ist, moderiere ich den Podcast Hope and Hard Pills. Ich widme mich den Dingen, die mich begeistern und die ich als erfüllend empfinde. So bin ich auf IRC aufmerksam geworden. Ich kenne die Organisation schon eine ganze Weile. Vor ein paar Jahren bin ich beim Global Rescue Dinner aufgetreten. Seitdem sind mir die Arbeit der Organisation und ihre Mitarbeitenden ans Herz gewachsen.
ABIBI: Du bist in den USA aufgewachsen, richtig? Ich habe gelesen, dass du von Trinidad und Tobago dorthin gezogen bist.
Wie hast du diesen Umzug in jungen Jahren und das Aufwachsen als Person of Colour in den USA erlebt?
TRISHES: Ich wurde in den USA geboren, als meine Eltern das College beendeten. Wir zogen zurück nach Trinidad als ich ein Baby war. Als Sechsjährige kam ich dann zurück in die Staaten. Ich glaube, das war eine schwierige Erfahrung für mich in vielerlei Hinsicht, die ich damals noch nicht richtig begreifen konnte.
Ich verstand die Strukturen nicht wirklich, in denen ich lebte und in denen ich zu leben lernte. In verschiedenen Teilen der Welt gibt es unterschiedliche Konstruktionen von Dingen wie Hautfarbe und gesellschaftliche Klasse. Eine große Herausforderung war es, in die USA zu kommen und die Bedeutung von Hautfarbe in der westlichen US-Kultur neu zu lernen. Gleichzeitig musste ich versuchen zu verstehen, was das für mich bedeutete, wo ich in dieser Gesellschaft hingehörte. Ich denke also, dass es eine traumatische Erfahrung war, die ich damals aber noch nicht bewusst wahrgenommen habe.
Was würdest du sagen, war damals der größte Unterschied zu Trinidad?
TRISHES: Ich glaube, die Kultur der White Supremacy ist in den Vereinigten Staaten viel stärker ausgeprägt. Das ist eine der drei Säulen der USA: Patriarchat, Kapitalismus, weiße Vorherrschaft. In Trinidad gibt es Spannungen unter verschiedenen Bevölkerungsgruppen, weil es eine britische Kolonie war. Als die Sklaverei abgeschafft wurde, ersetzten indische Vertragsarbeitende die Sklaven. Der prozentualen Anteile von Schwarzen Trinidader*innen und den Trinidader*innen südasiatischer Herkunft gibt es deshalb keine dominante Gruppe. In den Vereinigten Staaten hingegen ist die Vorherrschaft der Weißen in jedem Aspekt der Kultur zu finden.
ABIBI: Ich komme aus Pakistan, einer ehemaligen britischen Kolonie. Dort ist es sehr unterschiedlich, aber auch sehr ähnlich zu dem was du beschreibst.
Ich stamme aus einer sunnitischen Familie, bin in meinem Land light skinned und in dieser Hinsicht sehr privilegiert. Als ich aufwuchs, waren mir viele der ethnischen Gruppen, die es in Pakistan gab, gar nicht bekannt, weil wir die dominierende Kultur waren.
Gleichzeitig gab es diesen Drang, westlicher zu werden, vor allem in den 90er Jahren, als ich geboren wurde. McDonald’s und MTV wurden populär. Ich bin mit einer Menge amerikanischem Fernsehen aufgewachsen. So habe ich auch gelernt Englisch zu sprechen. In dieser Sprache wurden wir auch unterrichtet. Es gab also einen großen Druck, sich zu verwestlichen. Die Leute waren richtig stolz darauf, wenn man gut Englisch sprach, anstatt Urdu oder eine andere regionale Sprache.
Ich glaube, ich bin damit aufgewachsen, dass ich einen Großteil der pakistanischen Kultur ablehnte, weil es ein so starkes Bestreben gab, sich am Westen zu orientieren. Ich war gerade in Senegal und habe festgestellt, dass es dort noch viele Französ*innen gibt. Das haben wir nicht. Wir besitzen den größten Teil unseres Landes. Dennoch gibt es diese Hierarchie und das System, das den Menschen innerlich das Gefühl gibt, den Weißen nacheifern zu müssen.
Was denkst du, wie sich das in deiner Musik niederschlägt? Diese Reise, eingebettet zu sein in diese weiße Vorherrschaftsgesellschaft und dann schließlich dagegen ankämpfen zu müssen?
TRISHES: Ich glaube, das war schon immer ein Teil meiner Kunst, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst war. Mein Name ist Trish. Als TRISHES drücke ich meine verschiedenen Identitäten aus. Ich mache Live-Looping und manipuliere meine Stimme oft mit verschiedenen Effekten, um die verschiedenen „Ichs” darzustellen. Ich habe damit in meinen frühen Zwanzigern begonnen. Damals spürte ich mit viele innere Konflikte, weil ich die ganze Zeit widersprüchliche Dinge wollte und nicht wirklich verstand, woher das kam.
Rückblickend denke ich, dass ein Teil des Erwachsenwerdens darin besteht, seinen eigenen moralischen Kompass zu verstehen. Welcher Teil davon kommt von deiner Familie? Oder wenn man in einer Religion oder bestimmten Community aufgewachsen ist, muss man diese in Frage stellen und entscheiden, ob deren Werte mit dem übereinstimmen, was du wirklich bist.
Seit ich ein kleines Kind war, ist meine gesamte Kunst ein innerer Kampf zwischen widersprüchlichen Identitäten. Angesichts meiner Biographie glaube ich nicht, dass das ein Zufall ist.
ABIBI: Es hört sich so an, als würdest du verschiedene Seiten von dir erforschen und nicht in eine Schublade gesteckt werden wollen. Ich denke, wenn man uns durch eine „White Lens“ betrachtet, ist es oft einfacher, uns als Women of Colour aus Südasien zu kategorisieren, obwohl es viele Nuancen gibt.
Ist das etwas, womit du dich in deiner Musik beschäftigst?
TRISHES: Das ist etwas, womit ich mich in meinem Leben ständig auseinandersetze. Ich bin sicher, dass sich das in meiner Musik niederschlägt. Es gibt eine Menge Projektionen, die auf Women of Colour abgewälzt werden.
Ich reise in viele verschiedene Länder und die Leute denken, ich komme von da. In meiner Nachbarschaft gibt es viele Menschen aus Mexiko und Südamerika. Oft denken die Leute, ich sei eine Latina. Oft höre ich, ich sei aus dem Nahen Osten. Aber überwiegend denken die Leute, ich sei Südasiatin und in gewisser Weise stimmt das auch. Die Familie meines Vaters stammt aus Indien, aber fünf oder sechs Generationen zurück. Ich mag es nicht, wenn ich so gesehen werde, weil es so viel von mir außer Acht lässt. Ich fühle mich sehr karibisch. Ich glaube, die Karibik hat etwas ganz Besonderes an sich.
Meine Mutter hat einen sehr vielschichtigen Hintergrund. Die Matriarchen aus meiner Familie sind alle wirklich interessante, unglaubliche Frauen. Wenn man durch die „White Lens“ stereotypisiert wird, wenn man dreidimensionale Menschen auf einen zweidimensionalen Raum reduziert, fühlt es sich an, als ob einem etwas weggenommen wird.
Ich würde sagen, dass ich oft als wütend wahrgenommen werde. Ich denke, das kommt von den Vorurteilen gegenüber Schwarzer Frauen. Dabei hatte ich schon immer einen starken Gerechtigkeitssinn.
Wenn ich etwas sehe, das falsch ist, habe ich mich schon als kleines Kind darüber aufgeregt. Ich habe also einen großen Teil meines Lebens damit verbracht zu denken, dass ich eine wütende Person bin, obwohl ich eigentlich nur Ungerechtigkeit ablehne, was aus einem tiefen Mitgefühl heraus geschieht.
ABIBI: Ich habe andere Erfahrungen gemacht, weil ich in meinem Heimatland aufgewachsen bin, aber meine Jugend in Deutschland, in Europa verbracht habe. In meiner Heimat haben mich meine Privilegien geschützt. Dann kam ich hierher und entdeckte all die verschiedenen Formen der Unterdrückung. Ich muss sagen, dass meine Freund*innen mit dunklerer Hautfarbe in Europa viel mehr Rassismus erleben. Es war ein paar Jahre lang schwer, das zu begreifen, weil der Rassismus hier sehr subtil ist, so in der Art, „Ich weiß nicht, wie es in deinem Land ist, aber so solltest du dich hier verhalten”.
Als ich zum ersten Mal hierher kam, habe ich mich immer gefragt: Ist das wirklich Rassismus? Du machst dir die ganze Zeit selbst etwas vor. Ich hatte Pakistan verlassen, weil ich mich dort wirklich nicht zu Hause fühlte. Es gibt dort eine Menge Probleme, die dazu führen, dass sich Frauen, sagen wir mal alle die keine Cis-Männer sind oder nicht-sunnitische Muslim*innen, ziemlich ausgegrenzt fühlen. Sie fühlen sich nicht als Teil des Ganzen. Dann bin ich hierher gekommen, habe versucht, mir ein Zuhause zu schaffen und musste feststellen, dass das vielleicht auch nicht mein Zuhause ist.
Was bedeutet Zuhause für dich?
TRISHES: Zuhause bedeutet für mich Trost. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich jemals an einem Ort zu Hause gefühlt habe, aber ich fühle mich auf jeden Fall mit bestimmten Menschen zu Hause. Die Welt kann ein so hässlicher, brutaler Ort sein und ein so schöner, wunderbarer Ort. Ich bin entschlossen, immer wieder an die Grenzen meiner emotionalen Kapazität zu gehen, um die Wahrheit in dieser Dualität festzuhalten.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich jemals an einem Ort zu Hause gefühlt habe, aber ich fühle mich auf jeden Fall mit bestimmten Menschen zu Hause.
Welche Einflüsse aus Trinidad und Tobago hat deine Musik?
TRISHES: In meiner Jugend habe ich meine Kultur meist abgelehnt. Ich glaube nicht, dass sie einen sehr großen Einfluss auf die eigentliche Musik hat, eher auf das Konzept. Es ist eine viel gemeinschaftsorientiertere Gesellschaft. Meine kurze Erfahrung dort war, dass man von allen erzogen wird, von den Nachbar*innen, den Tanten, den Onkeln und dass es jedem freisteht, einen zu tadeln. Es hat etwas sehr Beruhigendes, wenn Menschen verstehen, dass jedes Kind ihr Kind ist. Daran mangelt es meiner Meinung nach in der westlichen Kultur. In der US-amerikanischen Gesellschaft gibt es einen Fokus auf Individualität. Ich habe mir das nie zu eigen gemacht, was möglicherweise an meiner Erziehung liegt.
Ich verstehe sehr gut, dass es keinen Unterschied zwischen mir und einer Person in Gaza gibt. Es gibt nichts, was ich getan habe, um hier zu sein, und was sie getan haben, um dort zu sein. Wir sind einfach in diesen Körpern und an diesen Orten geboren.
ABIBI: Das erinnert mich ans Aufwachsen in Pakistan. Zuallererst ist da die riesige Familie. Alleine mütterlicherseits habe ich 18 Cousinen und Cousins. Wenn ich sehe, wie diese riesigen Familien in Gaza ausgelöscht werden, bewegt mich das sehr, weil ich an meine Familie denke. Wenn etwas passieren würde, wären sie auch zusammen. Sie würden nicht getrennt werden wollen. Das macht das Ganze so schwer.
Als ich aufwuchs, war der ganze Individualismus des Westens so anziehend, weil man aus einer kollektivistischen Gesellschaft kam. Das hat gute und schlechte Seiten. Dann kommt man in den Westen und stellt fest, dass hier so viel Community fehlt, dass man sie selbst aufbauen muss.
Nach ein paar Jahren hier vermisse ich die Tradition, etwas für andere zu tun, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Wenn jemand zu viel kocht und sagt: 'Hey, komm, ich habe eine Menge Essen. Ich will es nicht allein essen.’ Diese kleinen Dinge haben mir gefehlt und ich bin sehr glücklich, dass ich sie jetzt habe.
Ich möchte ein wenig über den Song sprechen, den du für IRC gemacht hast.
Wie kamst du auf die Idee, ,We Won't Lose Count’ zu machen?
TRISHES: Gemeinsam mit IRC haben wir unsere Kräfte gebündelt und einen Song mit drei Musikschaffenden aufgenommen, die in verschiedenen Teilen der Welt Klient*innen der Organisation sind. Der Song erzählt ihre Geschichten und wir haben ihn für die IRC-Kampagne zum Weltflüchtlingstag 2024 gemacht, bei der es um die Schicksale hinter einer Statistik geht. Jedes Jahr im Juni wird die Gesamtzahl der Menschen weltweit veröffentlicht, die durch Konflikte und Naturkatastrophen aus ihrem Zuhause vertrieben wurden. In diesem Jahr werden weltweit schätzungsweise über 120 Millionen auf der Flucht sein. Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, so große Zahlen zu erfassen. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass jede*r Einzelne von ihnen ein Mensch ist wie du und ich, mit Talenten, Liebe und Familie, mit Sinn für Humor, mit einem Lieblingslied, mit einem Lieblingsessen. Für uns ist es einfach unmöglich, das zu tun. Der Song war also Teil des Versuchs, diesen Menschen näherzukommen und sie besser zu verstehen, auch wenn es nur drei Geschichten sind.
Mein Produzent und guter Freund Gabe und ich schrieben das Grundgerüst für den Song, bevor wir wussten, wer in dem Lied vorkommen würde. Wir ließen Raum, um Texte über diese Menschen zu schreiben. Als wir die Musiker*innen kannten, konnten wir mit ihnen im Videochat über ihr Leben sprechen und ihre Erzählungen in den Song einfließen lassen.
Farhad aus Afghanistan spielte Tabla. Die Geigerin Solomiia kommt aus der Ukraine und lebt in Polen. Das Klavierstück hat David aus Kongo für uns aufgenommen.
Für die Instrumente hatten wir Arrangements, die sie spielen sollten, aber mit der Anweisung, dass sie dem Ganzen gerne ihren eigenen Stil geben sollten. Die erste Person, die wir aufnahmen, war Farhad. Er lebt jetzt in San Diego, was nah an Los Angeles liegt. Also konnten wir zu ihm fahren. Wir hatten uns im Internet einen Tabla-Loop ausgesucht. Er hat uns jedoch seine eigenen Rhythmen beigebracht. Das hat Spaß gemacht. Es war der letzte Tag des Zuckerfests und Farhad lud uns zu einem Abendessen mit seiner Familie ein. Leider konnten wir nicht bleiben, doch seine Einladung hat mir viel bedeutet. Wenn man an einem der größten Feiertage des Jahres zu einem Familienessen eingeladen wird, ist das unglaublich rührend. Ich weiß nicht, wie viele Amerikaner*innen, die ich kenne, das mit Fremden tun würden.
David nahm sein Piano-Stück in einem Community Studio im US-amerikanischen Charlottesville auf. Solomiia aus der Ukraine war die jüngste Teilnehmerin. Sie lebt derzeit in Polen. Ich glaube, sie ist 17 oder 18 Jahre. Sie ist einfach brillant. Wir hatten einen Geigenpart für sie und dazu schrieb sie einen zusätzlichen Pizzicato-Teil, bei dem sie die Saiten zupfte, anstatt sie zu streichen. Ich denke, das gibt dem Song etwas Besonderes, was vorher nicht da war.
Ich bin wirklich erstaunt über die Großzügigkeit der Menschen. Sie kommt von Menschen, die Solidarität erlebt haben. Alle drei sprachen in den höchsten Tönen von IRC und dem, was die Organisation für sie getan hat. Ich glaube, sie wollten die erhaltene Unterstützung unbedingt auf verschiedene Weise weitergeben.
Als eine Art Anspielung auf meine eigene Kultur hat der Song einen Reggaeton-Beat mit einem karibischen Touch. Er heißt ,We Won't Lose Count’, um darauf hinzuweisen, dass wir diese Millionen von Menschen wie Farhad, Solomiia und David nicht aus den Augen verlieren werden.