Menschenhandel führt oft zu einer tiefgreifenden psychischen und emotionalen Abhängigkeit der Betroffenen von ihren Täter*innen. Diese Abhängigkeit wird als „traumatische Bindung” (engl.: trauma bonding) bezeichnet und erschwert es den Opfern, sich von der Kontrolle ihrer Ausbeuter*innen zu befreien.  

Erfahre, wie Trauma Bonding im Menschenhandel entsteht und warum besonders Kinder gefährdet sind. 

Was ist das „Stockholm-Syndrom”? 

Eine spezifische Form der traumatischen Bindung ist das sogenannte „Stockholm-Syndrom”. Es entsteht im Fall von Menschenhandel, wenn Menschenhändler*innen ihre Opfer wiederholt traumatischen Erlebnissen und chronischem Missbrauch aussetzen und die Betroffenen nach dem Missbrauch durch fürsorgliches Verhalten belohnen. Dadurch entsteht eine positive emotionale Verbindung, welche es für Betroffene schwieriger macht, sich aus der Situation zu lösen.  

Dies kann zum Beispiel dadurch entstehen, dass Täter*innen ihre Opfer während sie in einer schwierigen Situation sind als einzige Person mit Essen versorgen, oder auch durch Liebesbekundungen und freundliche Worte die nach einer Bestrafung Dankbarkeit auslösen können. 

Dadurch entwickelt das Opfer eine emotionale Abhängigkeit. Anstatt die Täter*innen als Feinde zu betrachten, beginnen die Betroffenen, Dankbarkeit, Vertrauen und Loyalität gegenüber ihnen zu empfinden. Diese verzerrte Wahrnehmung der Beziehung schwächt das Selbstbewusstsein der Betroffenen und hindert sie daran, ihre Freiheit aktiv zu suchen.  

Welche Methoden der psychologischen Manipulation nutzen Menschenhändler*innen? 

Menschenhändler*innen setzen gezielt auf die Kombination von Angst und Hoffnung, um ihre Opfer emotional zu binden. Sie unterdrücken sie mit Gewalt, während sie gleichzeitig Momente scheinbarer Zuwendung schaffen. Diese Taktik verstärkt die Abhängigkeit der Betroffenen und hält sie in einer ständigen Erwartungshaltung. Oft glauben die Opfer, dass sie ihren Unterdrücker*innen vertrauen müssen, um zu überleben. 

Eine verbreitete Manipulationsstrategie besteht darin, dass die Täter*innen als Beschützer*innen oder Pfleger*innen auftreten. Sie vermitteln ihren Opfern das Gefühl von Stabilität und Schutz, um die traumatische Bindung weiter zu festigen. Nach jeder Missbrauchserfahrung erhalten die Betroffenen kleine „Belohnungen“ in Form von Zuwendung oder Gefälligkeiten. Diese gezielte Manipulation hält die Opfer in einem Kreislauf gefangen, der ihnen das Entkommen oder die Suche nach Hilfe erschwert. 

Zudem schaffen Menschenhändler*innen oft eine familiäre Atmosphäre, die den Opfern Zugehörigkeit und Schutz suggeriert. Für viele, die aus zerrütteten Verhältnissen stammen, erscheint diese falsche Fürsorge täuschend echt. Die Opfer bleiben häufig, weil sie fest davon überzeugt sind, dass ihre Ausbeuter*innen die einzige Quelle von Stabilität in ihrem Leben darstellen. 

Warum sind Kinder und Jugendliche besonders gefährdet für Trauma-Bonding? 

Kinder und Jugendliche sind besonders anfällig für traumatische Bindungen, wenn sie keine stabilen familiären Beziehungen erlebt haben. Menschenhändler*innen nutzen diese Situation aus, indem sie ein Umfeld schaffen, das wie eine Ersatzfamilie wirkt. Diese künstliche Scheinwelt gibt Kindern, die keine gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen kennen, ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit. 

Warum bleiben Betroffene oft in traumatischen Beziehungen? 

Betroffene erleben in traumatischen Beziehungen ein Gefühl von Vertrautheit und Stabilität – selbst, wenn diese Beziehungen missbräuchlich sind. Der Gedanke, die Beziehung zu verlassen, löst bei vielen extreme Ängste aus, da das Unbekannte bedrohlich erscheint. Die Kontrolle durch die Täter*innen, die in der traumatischen Bindung ausgeübt wird, lässt die Betroffenen in ihrer vertrauten Welt gefangen. Für viele wirkt die Aussicht auf Freiheit überwältigend und beängstigend. 

Das Verlassen einer traumatischen Beziehung führt oft zu intensiven emotionalen Reaktionen wie Wut, Traurigkeit, Gefühllosigkeit und innerer Unruhe. Viele Betroffene kämpfen mit negativen Erwartungen an die Zukunft und erleben „Rückfälle“, bei denen sie zu den Täter*innen zurückkehren. Diese Phasen der Rückkehr sind typisch und müssen bei der Unterstützung von Betroffenen berücksichtigt werden. 

Wie kann Fachpersonal ungewöhnliche Verhaltensweisen von Überlebenden erkennen? 

Wichtig ist ein Bewusstsein dafür, das Überlebende von Menschenhandel sich vielleicht nicht so verhalten, wie es den eigenen Erwartungen entspricht. Die traumatische Bindung führt oft zu widersprüchlichen Reaktionen: Betroffene agieren möglicherweise als Mittäter*innen, zeigen Ambivalenz gegenüber den Menschenhändler*innen oder verweigern die Zusammenarbeit mit Behörden. Fachkräfte müssen in der Lage sein, diese komplexen Verhaltensweisen zu erkennen und zu verstehen, dass die traumatische Bindung den Betroffenen eine trügerische Sicherheit und Vorhersehbarkeit vermittelt. 

Fachleute sollten auf Anzeichen einer traumatischen Bindung achten und dies im Umgang mit Überlebenden berücksichtigen.

Betroffene fühlen sich oft beobachtet und vermeiden es, über ihre Täter*innen zu sprechen – selbst wenn diese nicht anwesend sind. Begleitpersonen versuchen häufig, für sie zu sprechen, wodurch die Betroffenen eingeschüchtert und ängstlich wirken. Außerdem reden sie oft nur im Zusammenhang mit der Person, die sie missbraucht hat, und rationalisieren das Erlebte. 

Deshalb ist es für Fachkräfte besonders wichtig, Vertrauen zu den Betroffenen aufzubauen und ihre individuellen Bedürfnisse zu verstehen, um ihnen die bestmögliche Unterstützung bieten zu können. 

Wie hilft IRC Betroffenen?

Das IRC-Projekt „Safety Net” klärt potenziell Gefährdete über die Risiken und Anzeichen von Menschenhandel auf. Außerdem identifiziert es Betroffene und unterstützt sie dabei, Hilfe zu finden. Damit Betroffene besser erkannt werden, schult das Projekt zusätzlich Organisationen, die mit Geflüchteten arbeiten. 

Was kannst du gegen Menschenhandel tun?