In einem Park in der Münchner Innenstadt breitet Halima eine bunte Stoffdecke aus. Nach und nach treffen immer mehr Frauen mit ihren Kindern ein. Die Frauen kommen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, sprechen unterschiedliche Sprachen, leben in verschiedenen Notunterkünften in München – aber eines haben sie gemeinsam: Sie sind durch Menschenhandel nach Deutschland gekommen.
Halima begrüßt die Frauen, die es sich auf der großen Decke gemütlich machen und fragt nach schönen Erlebnissen der letzten Woche. Beim ersten Treffen vor fünf Wochen fiel es den Frauen schwer, an etwas Positives zu denken. Jetzt überlegen sie schon vorher, was sie erzählen wollen. „Das können ganz einfache Erlebnisse sein, wie zum Beispiel, wenn euer Kind euch umarmt oder ihr ein neues Kleidungsstück habt“, erinnert Halima sie.
Beim letzten Treffen beschäftigte sich die Gruppe mit dem Thema Gesundheit. Dabei kamen die Frauen auf die Idee, ein Picknick mit Bewegungsspielen aus ihrer Kindheit zu organisieren. Auch Halima kannte die „African Games“. Für das Picknick hatte sie extra einen Ball aus Socken gebastelt, wie sie ihn aus ihrer eigenen Kindheit in Kenia kannte.
Halimas Gruppe
Vor einiger Zeit schickte eine Kollegin Halima die Anzeige von IRC. Gesucht wurde eine Gruppenleitung für eine Selbsthilfegruppe für Mütter aus Subsahara-Afrika, die Erfahrungen mit Menschenhandel gemacht haben. Halima arbeitet hauptberuflich bei der Organisation „JUNO“ wo sie geflüchtete Frauen in München berät, und übersetzt regelmäßig für Asylverfahren aus dem Kisuaheli. Zudem ist sie Diversity-Trainerin und leitet eine Gruppe für Schwarze Eltern in München. „Ich versuche, in so viele Räume wie möglich zu kommen, in denen es noch zu weiß ist. Nicht weil die Leute ignorant sind, sondern weil ich glaube, dass es mehr Sichtbarkeit braucht“, erklärt Halima.
Seit fünf Wochen leitet sie eine IRC-Gruppe für junge Mütter, die durch Ausbeutung und Menschenhandel nach Deutschland gekommen sind.
Seit fünf Wochen leitet sie eine IRC-Gruppe für junge Mütter, die durch Ausbeutung und Menschenhandel nach Deutschland gekommen sind. Die Gruppe, die von Halima geführt wird, findet im Rahmen des DIRECT-Projekts statt, das von der EU finanziert wird. Die meisten der Teilnehmenden sind durch IRCs Partnerorganisation Jadwiga auf die Gruppe aufmerksam geworden. „Die Teilnehmenden waren vom ersten Tag an sehr dankbar, dass es diesen Ort gibt, an dem sie die Fragen stellen können, die sie beschäftigen und, dass jemand da ist, der ihnen zuhört und sie ernst nimmt.“
Halima hat für ihre Gruppe drei Regeln aufgestellt:
- Niemand wird unterbrochen,
- die Teilnehmer*innen reden nur über sich und
- alles, was in der Gruppe besprochen wird, darf nicht nach außen getragen werden.
Die Themen für jedes Treffen legt sie gemeinsam mit den Frauen fest. Ein wichtiges Thema ist der Umgang mit Stress und traumatischen Erlebnissen. Viele der Frauen wissen noch nicht, ob sie in Deutschland bleiben können. Auch wenn sie sich nicht mehr in einer Ausbeutungssituation befinden, sind die meisten nicht sicher und haben Angst vor den Menschenhändler*innen, die sie nach Deutschland gebracht haben. Vor allem sorgen sie sich um die Zukunft ihrer Kinder. „Einige Teilnehmerinnen haben Kinder in den Herkunftsländern und wissen nicht, wie es ihnen geht oder ob sie genug zu essen haben. Diese Unsicherheit belastet sie sehr.“
Nikis Weg nach Deutschland
Niki kommt aus einem Land in Westafrika. Seit ihrer Kindheit liebt sie Haare und übte das Flechten auf einem Korbstuhl im Elternhaus. Sie liebt das Gefühl, wenn sich andere durch ihre Arbeit schöner fühlen. Als Niki heiratet und eine eigene Familie gründet, machen religiöse Konflikte in ihrer Gemeinde das Leben unsicher. Über Umwege lernt sie eine „Madam“ kennen, die ihr versprach, sie nach Belgien zu bringen. Dort kann sie in einem Friseursalon arbeiten, ihre Kinder auf eine gute Schule gehen und ihr Mann als Schuster Arbeit finden. Statt direkt nach Belgien zu fliegen, geht es erst einmal in die Nachbarländer. Tagelang läuft Niki mit vielen anderen Menschen durch die Wüste. Der Weg ist beschwerlich, aber die Madam ist nett und versorgt die Familie auf ihrer Reise.
Libyen
In Libyen angekommen, werden Niki und ihr Mann getrennt und die Madam zeigt ihr wahres Gesicht. Niki wird in eine Lagerhalle mit anderen Frauen gebracht und erfährt, dass sie von nun an hier arbeiten und die Kund*innen bedienen soll. An den Türen der Halle stehen Männer und bewachen die Frauen. Niki versteht nicht. „Soll ich hier Haare machen?“ fragt sie. Die Madam lacht und schlägt sie ins Gesicht. Nein, Niki soll als Prostituierte arbeiten. Niki will das nicht und wehrt sich. Erst als sie ihr drohen, ihr das Kind wegzunehmen, gibt sie nach.
Griechenland
Nach ein paar Monaten darf Niki ihren Mann wiedersehen. Er musste als Zwangsarbeiter für einige Männer arbeiten. Niki bringt es nicht übers Herz, ihm zu sagen, was ihr widerfahren ist. Am nächsten Tag kommt die Frau und holt sie ab. Niki hat Angst, aber gleichzeitig hofft sie, dass das ein schreckliches Missverständnis war und noch alles gut wird. Kurze Zeit später wird die Familie auf ein überfülltes Boot gebracht um über das Mittelmeer zu fahren. Das Boot sinkt, aber Niki und ihr Mann werden von der Seenotrettung aus dem Wasser gezogen und in eine Notunterkunft nach Griechenland gebracht. Fast zwei Jahre leben sie dort und Niki wird erneut schwanger. Gleichzeitig bekommt sie immer wieder Anrufe aus Belgien mit dem Angebot, in einem Friseursalon zu arbeiten. Niki und ihr Mann zögern. Nach der Geburt ihres Babys und der Schließung der Notunterkunft, sehen sie keine Zukunft in Griechenland und ziehen nach Belgien.
Belgien
Dort wohnen sie bei dem Mann, der sie kontaktiert hatte. Es gab keinen Friseursalon. Niki soll als Prostituierte arbeiten und ihr Mann soll Pakete schmuggeln. Sie erleben Gewalt und Bedrohungen und fliehen in eine Notunterkunft für Geflüchtete. Doch die Männer finden sie und verlangen 50.000 Euro. Von dem wenigen Geld, das sie in der Notunterkunft bekommen, geben sie alles den Männern. Doch das reicht nicht und die Drohungen nehmen zu.
Deutschland
Niki und ihr Mann fliehen zurück nach Griechenland um den Männern zu entkommen. Doch die Bedrohungen bleiben. „ Wenn wir hier bleiben, sterben wir einen stillen Tod”, sagt Niki zu ihrem Mann. Daraufhin entscheiden sie sich nach Deutschland zu gehen.
Seit einigen Monaten lebt Niki mit ihrer Familie in einer Notunterkunft in München. Ob sie bleiben können, ist ungewiss. Niki besucht einen Deutschkurs, während ihre Kinder sich danach sehnen, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Ohne festen Tagesablauf hat sie viel Zeit zum Nachdenken, was zu Erinnerungen und Ängsten führt. Von ihrer Sozialarbeiterin hat Niki von Halimas Gruppe erfahren.
„Ich komme jedes Mal. Die Gruppe macht mich glücklich. Halima fragt uns: ‚Was sind eure Stärken? Wie geht ihr mit Stress um? Was macht ihr mit rasenden Gedanken? Warum könnt ihr nicht schlafen?’ Es ist, als wüsste sie, dass ich nicht schlafen kann. Halima weiß, dass jede von uns ihre eigenen Schwierigkeiten hat, aber sie überfordert uns nicht mit Fragen. Sie sagt, wir sind frei zu teilen was wir wollen. Das macht die Gruppe so besonders. Das hilft mir sehr. Halima weiß es vielleicht nicht, aber sie hat einen großen Einfluss auf mein Leben“, sagt Niki über die Gruppe.
Viel mehr als nur Betroffene
Halima arbeitet bei den Treffen daran, das Selbstbewusstsein der Frauen zu stärken, denn auch in Deutschland haben viele von ihnen Diskriminierung, Rassismus und Ungerechtigkeit erfahren. „Meine Klientinnen kommen aus Subsahara-Afrika - in der ‚Flüchtlingspyramide’ stehen sie ganz unten, ob man will oder nicht. Das erfahren sie in der Notunterkunft, im Sozialamt, überall. Manchmal werden sie von den Sozialarbeiter*innen gar nicht ernstgenommen oder sogar rassistisch beleidigt. Viele, die nach Deutschland kommen, haben sich schon etwas aufgebaut, haben gearbeitet oder hatten vielleicht ein eigenes Geschäft. Dann kommen sie hierher und sind erst mal nichts. Das ist eine große Herausforderung, immer nur als Geflüchtete gesehen zu werden“ sagt Halima.
Auch Niki hat durch die Gruppe ihre Stärke wiedergefunden und erkannt, dass sie viel mehr ist als nur eine Betroffene von Menschenhandel. Bevor sie Teil der Gruppe wurde, hatte sie oft Zweifel, ob sie nicht selbst schuld an ihrer Situation sei, weil sie zu viel wollte. „Diese Leute sagten, ich sei gierig. Sie hatten uns eine Chance gegeben, um die uns andere beneideten und wir haben alles vergeudet. Manchmal fühle ich mich schuldig. Wollten sie uns wirklich helfen? Aber dann finde ich meine Stärke wieder und weiß, das ist keine echte Hilfe. Hilf mir auf eine ehrliche Art, dann werde ich dir dankbar sein und deine Hilfe wertschätzen.“
Die Übungen in der Gruppe haben Niki geholfen, sich daran zu erinnern, wer sie einmal war und was sie ausmacht. Neben ihrer Leidenschaft für Mode und Frisuren kann sie gut mit Kindern umgehen. So gut, dass alle Kinder in ihrer Notunterkunft sie immer besuchen und die anderen Mütter sie um Rat fragen. Niki liebt es auch, Menschen aus anderen Ländern zu treffen und neue Orte in München zu entdecken. Sie will endlich ankommen, ihre Kinder zur Schule schicken, sich frei und sicher fühlen und später sogar anderen Betroffenen helfen.
Ich will, dass andere Betroffene Mut haben, großen Mut, denn der Weg wird weit und schwer. Sie werden verfolgt. Aber eines Tages werden sie frei sein. Bis dahin müssen sie stark sein und sich selbst kennen. Sie dürfen nicht an sich zweifeln.
Auch für Frauen, die noch in ihrer Heimat sind und von einem Leben im Ausland träumen hat Niki eine Botschaft. „Wenn das Angebot zu gut ist, um wahr zu sein, wenn sie dir Honig ums Maul schmieren und den Traum immer süßer machen - Sei vorsichtig, bevor du ihnen vertraust“.
„Einer der besten Tage in Deutschland“
Für Halima ist es nicht selbstverständlich, dass sich die Frauen öffnen und ihre Gefühle und Geschichten teilen. Sie wünscht sich, dass die Frauen in Deutschland auch außerhalb der Gruppe auf Verständnis, Unterstützung und vor allem Wertschätzung stoßen.
„Menschenhandel gibt es auch in Deutschland, auch mitten in München. Ich würde mir wünschen, dass die Leute den Frauen auf einer menschlichen Ebene begegnen. Statt zu denken, die Frauen wissen eh nichts, sollte man sie fragen: ‚Was brauchst du, was kann ich für dich tun?‘“, betont Halima.
Sie liebt ihre Arbeit, besonders, wenn es ihr gelingt, einen Raum für die Frauen zu schaffen. „Wenn sie fühlen, dass sie bei mir ihre Gefühle zeigen und auch mal eine Träne zulassen dürfen, berührt mich das. Den Frauen auf Augenhöhe zu begegnen, gibt mir sehr viel. Ohne sie wäre ich nicht, wer ich bin.”
Am Tag nach dem Picknick erhält Halima eine Sprachnachricht von einer der Frauen: „Das war einer der besten Tage seit langem in Deutschland“.
*zum Schutz der Privatsphäre wurden Name und biografische Details geändert
Bist du selbst von Menschenhandel und Ausbeutung betroffen?
Wenn du Hilfe benötigst, zögere nicht, Unterstützung zu suchen. IRC bietet verschiedene Projekte im Bereich Anti-Trafficking an. Gemeinsam mit der Fachberatungsstelle Jadwiga engagiert sich das Projekt SafetyNet für die Prävention von Menschenhandel bei Geflüchteten. Das Projekt Safe Hut schafft sichere Räume für die psychosoziale Unterstützung, Beratung und soziale Integration geflüchteter Frauen und Mädchen.
Das Projekt „DIRECT“ wird durch den Asylum, Migration and Integration Fund (AMIF) der Europäischen Union gefördert (AMIF-2022-TF1-AG-THB).