„Hier kann ich mein Herz ausschütten.“
Audrey hat sich aus ihrem Heimatland auf den Weg nach Lesbos, Griechenland gemacht, um ihre ungeborene Tochter zu schützen.
Audrey hat sich aus ihrem Heimatland auf den Weg nach Lesbos, Griechenland gemacht, um ihre ungeborene Tochter zu schützen.
Audrey erinnert sich noch an die Überfahrt von der Türkei nach Lesbos, Griechenland. Es war die letzte Etappe einer langen, beschwerlichen Reise aus ihrem afrikanischen Heimatland*. Sie war schwanger und bereits sieben Tage zu Fuß unterwegs, um es an die türkische Küste zu schaffen.
Audrey war motiviert durch die Hoffnung, dass ihre ungeborene Tochter bald in Sicherheit sein würde.
Aber sie hatte auch Angst, als sie in das unsichere Schlauchboot kletterte, dass sie nach Europa bringen sollte.
„Bevor ich an Bord ging, beschloss ich, nicht auf das Wasser zu schauen. Wenn man sich das Meer anschaut, bevor man ins Boot steigt, blockiert einen die Angst. Ich stellte mir vor, dass ich einen kleinen Fluss in Afrika überquere“, erzählt Audrey.
Als Audrey den Sand der griechischen Küste unter ihren Füßen spürte, war sie erleichtert. Sie hatte es endlich geschafft. Doch ein paar Tage später stellte sie fest, dass sie ihr Baby verloren hatte.
„Ich sagte den Ärzt*innen: ‚Ich habe diese ganze Reise für mein Baby gemacht. Ich bin in die Türkei und nach Griechenland gereist, um meine Tochter zu retten.‘ Alles fühlte sich so auswegslos an. Ich erinnerte mich an alles, was ich schon verloren hatte. Ich bin diese Reise nur für mein Kind angetreten.“
Audrey wuchs in einer liebevollen Familie auf. Ihr Vater arbeitete als Übersetzer für das Büro des Präsidenten und ihre Mutter war Beamtin.
„Meine Eltern haben mir viel Liebe geschenkt, ich war ihr einziges Kind. Aber als ich 10 war, starb mein Vater und alles brach zusammen. Dann, mit 12, verlor ich meine Mutter. Sie hat den Tod meines Vaters nicht verkraftet und starb an einem Herzinfarkt.“
Nach dem Tod ihrer beiden Eltern hatte Audrey niemanden, der sie unterstützte. Verwandte stahlen ihr Erbe. Als Jugendliche lebte sie alleine auf der Straße.
Dann, mit 18, traf sie einen Mann und begann eine Beziehung mit ihm. Audrey zog bei ihm ein.
„Die ersten Monate waren großartig. Aber dann fing er an, mich zu schlagen. Er sagte: ‚Du bist nur ein armes Waisenkind, mit dem ich Erbarmen hatte. Wenn du nicht das machst, was ich will, werde ich dich rausschmeißen‘, sagt sie.
Eine Freundin ermutigte sie, den Missbrauch bei der Polizei zu melden. „Ich hatte den Mut zu sagen: ‚Wenn du mich wieder verletzt, werde ich zur Polizei gehen‘. Am Tag danach kam er mit seinem Freund, der Polizist war und seine Waffe auf mich richtete. Mein damaliger Lebensgefährte sagte: ‚Wenn du zur Polizei gehst, wirst du das bekommen‘. Also beschloss ich, zu schweigen."
Als Audrey herausfand, dass sie schwanger war, wurden die Schläge unerträglich. Der Mann sagte ihr, wenn das Baby ein Mädchen wird, dann würde sie weibliche Genitalverstümmelung erleiden müssen.
Aus Angst um das Leben ihrer Tochter und auch um ihr eigenes, rief Audrey eine Freundin an, die sie mit Dokumenten und Geld unterstützte. Damit konnte sie in die Türkei fliehen.
In Istanbul wurde Audrey alles gestohlen, inklusive ihr Geld und ihr Reisepass. Ein paar Wochen später fühlte sie sich krank und blutete. Als sie versuchte, sich in einem örtlichen Krankenhaus behandeln zu lassen, sagte man ihr, dass sie dafür einen Pass bräuchte.
Andere Geflüchtete fühlten mit Audrey und gaben ihr das Geld, das sie brauchte, um nach Lesbos zu gelangen – aber der einzige Weg dorthin, war auf einem Schlauchboot über das Meer. Audrey erzählt, dass den meisten Menschen, die versuchen, nach Griechenland zu gelangen, nicht gesagt wird, wie sie dorthin kommen. „Ein Mann aus Kamerun kam mit Anzug und Koffer. Er dachte, er würde mit dem Flugzeug reisen. Die Leute lachten über ihn - er verstand nicht, warum er so viel Geld bezahlt hat.“
Als Audrey in Griechenland ankam, wurde sie nach Moria gebracht, einem Aufnahmezentrum, das für 3.000 Menschen ausgelegt war. Es beherbergte allerdings über 20.000 Menschen. Die Bedingungen dort sind gefährlich – besonders für Frauen.
Psychische Probleme sind in Moria weit verbreitet. Sie sind nicht nur ein Resultat der traumatischer Erfahrungen, die geflüchtete Menschen gemacht haben, sondern ein Ergebnis der mangelnden Unterstützung und Perspektivlosigkeit auf der Insel.
Das Leben in Moria bot wenig Chancen auf Erholung von Audreys Erlebnissen.
„Ich konnte nicht schlafen. Ich wachte nachts auf, und weinte. Ich weinte die ganze Zeit. Andere Geflüchtete hatten Mitleid. Der Arzt war besorgt um mich. Ich war erschöpft. Ich dachte sogar an Selbstmord.“
Medizinische Fachkräfte rieten Audrey zu einer Therapie durch Psycholog*innen von IRC.
„Ich ging ins [IRC]-Zentrum und als die Psychologin mir ein Glas Wasser anbot, brach ich in Tränen aus. Diese Aufmerksamkeit zu haben, hat mich wirklich berührt. Über meine Erfahrungen zu sprechen war die beste Therapie. Die Gespäche ermutigten mich. Es war ein Ort, an dem ich reden und mein Herz öffnen konnte. Es fühlte sich an wie ein Paradies. Du sprichst und wirst dadurch geheilt.“
„Andere Geflüchtete sahen, dass meine psychische Gesundheit besser wurde. Es berührte mich, dass die Menschen meine Fortschritte bemerkt haben. Nach drei Monaten habe ich mich verändert, es ist wie ein Wunder.“
Audrey hat es nun von Moria auf das griechische Festland geschafft. Sie hofft, einen Job zu finden, bei dem sie mit kleinen Kindern arbeiten kann und ist entschlossen, ihr Leben in Griechenland wieder aufzubauen.
Zusammen mit Hunderten anderen Geflüchteten hat Audrey von IRC psychische Unterstützung bekommen, während sie in den überfüllten Lagern Griechenlands unter schwierigsten Bedingungen lebte.
Die Pandemie hat die Situation für Geflüchtete auf den griechischen Inseln verschlimmert. Die Menschen werden unter ohne Perspektive festgehalten. Europa muss dieser Grausamkeit dringend ein Ende setzen und die 15.000 Menschen, die auf den Inseln gefangen sind, umsiedeln. Erfahren Sie mehr.
*Namen und Geburtsort wurden geändert, um die Identität der befragten Person zu schützen.