Yazan* aus Syrien hat einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Bei einem Anschlag wurden sein Bruder und seine Schwester getötet. Er selbst wurde schwer verletzt.
Neben der Trauer um seine Geschwister musste er lernen, mit einer Behinderung zu leben, und Verantwortung für die drei Kinder seines Bruders zu übernehmen. Die Situation der Familie scheint ausweglos, bis sie von einem IRC-Projekt erfahren, dass Yazan helfen kann.
Yazan sitzt mit seinen Kindern auf dem Wohnzimmerteppich. Er legt eine gelbe Plastikbanane in den kleinen Spielzeugeinkaufskorb und zieht einen unsichtbaren Geldschein aus der Hosentasche, um sie zu bezahlen. Der zehnjährige Ali nimmt das erfundene Geld entgegen und Yazan streichelt ihm lächelnd über den Kopf, bevor er sich einer seiner Töchter zuwendet.
Seitdem er seinen kleinen Supermarkt eröffnet hat und die Kinder von IRC das neue Spielzeug bekommen haben, spielen sie am liebsten Einkaufsladen. Dass Yazan so ausgelassen mit den Kindern spielen kann, ist nicht selbstverständlich. Daran erinnern auch die Krücken, die noch immer an der Wand des Wohnzimmers lehnen.
Der Anschlag
In seiner Heimatstadt hatten Yazans Eltern ein schönes Haus, einen großen Garten und ein paar Obstbäume. Als Kind ging Yazan gerne mit seinen Freund*innen ins Fußballstadion. Er war gut in der Schule und wollte Jura studieren. Doch dann begann der Krieg und alles änderte sich.
Eines Tages fuhren Yazan, seine Schwester und sein Bruder mit dem Motorrad zu einem nahe gelegenen Markt , um Lebensmittel für die Familie zu kaufen. Dieser Tag veränderte Yazans Leben. Ein lautes, dröhnendes Geräusch, eine Explosion und alles wurde schwarz.
Als Yazan mitten auf der Straße wieder zu sich kam, sah er neben sich seine toten Geschwister. Er selbst konnte nicht mehr aufstehen. Später erfuhr Yazan, dass sein Oberschenkelknochen bei der Explosion zersplittert war.
Yazans Bruder hinterließ eine Witwe und drei kleine Kinder, für die Yazan nun verantwortlich ist. Seit Yazan bei einem Anschlag schwer am Bein verletzt wurde, kann er nicht mehr gehen. Deshalb war er anfangs nicht in der Lage, für seine eigene Frau und Tochter zu sorgen.
„Meine Frau hat mich in dieser Zeit sehr unterstützt. Sie hat mich monatelang gewaschen. Wenn ich am Boden lag und traurig über meine Situation war, hat sie mich ermahnt, geduldig zu sein und mich beruhigt. Das hat mir geholfen, stark zu bleiben.”
Trotz dieser Unterstützung verschlechtert sich auch Yazans psychische Gesundheit. Die traumatischen Erinnerungen an den Anschlag, der Tod seiner Geschwister und die Einschränkungen durch seine körperliche Behinderung sind einfach zu viel.
Als die Bedrohung durch den Krieg zu groß wird, flieht die Familie nach Raqqa.
Psychosoziale Hilfe als Fundament für den Neuanfang
Hier erfährt Yazans Frau von ihren neuen Nachbarn über die Arbeit von IRC. Sie meldet Yazan an und kurz darauf bekommt die Familie Besuch von Wissam*, einem IRC-Mitarbeiter. Wissam ist auf die Betreuung von männlichen Klienten spezialisiert, insbesondere von Menschen mit Behinderungen.
Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Besuch bei Yazans Familie: „Yazan litt unter Traurigkeit und Depressionen. Ich bot ihm an, ihn bei der Bewältigung seines Verlusts und seiner Trauer zu begleiten und dabei auf unsere Expertise im Bereich psychosoziale Gesundheit zurückzugreifen.
Ich achtete darauf, ihm bei seinen Erzählungen aufmerksam zuzuhören. Aktives Zuhören ist eine wichtige Methode in meiner Arbeit. Ich merkte, dass Yazan es schätzte, wenn ich ihm so aufmerksam zuhörte, er fühlte sich gesehen. So entstand nach und nach ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen uns, das es mir ermöglichte, ihm durch Rat und Unterstützung zur Seite zu stehen”.
Gerade Männern falle es oft schwer, einen gesunden Umgang mit ihren Gefühlen zu finden, betont Wissam. In seiner Arbeit vermittelt er ihnen, dass sie ihre Gefühle zulassen können und mit ihnen nicht allein sind.
Yazan steht wieder auf eigenen Beinen
Von da an besuchte Wissam die Familie regelmäßig. Bei einem seiner Besuche brachte er einen Toilettenstuhl und Krücken mit. So konnte Yazan ein Stück seiner Selbstständigkeit zurückgewinnen und sich zu Hause wieder ohne Hilfe bewegen.
Wissam setzte sich auch dafür ein, dass Yazan in das Programm „Cash for Protection“ aufgenommen wurde. Mit einem Bargeldzuschuss von 250 Euro konnte Yazan am Bein operiert werden. Die Operation verlief erfolgreich und in den folgenden Monaten arbeitete er in der Physiotherapie fast täglich daran, wieder laufen zu können.
Als Wissam eines Tages wieder zu Besuch kam, öffnete ihm Yazan ohne Krücken und mit einem breiten Lächeln die Tür. Für Wissam war das einer der schönsten Momente seiner beruflichen Laufbahn.
„Als er die Tür öffnete und eigenständig gehen konnte, war ich unglaublich glücklich. Ich konnte das Ergebnis unserer gemeinsamen Bemühungen sehen und erkannte den Sinn meiner Arbeit. Ich habe das Leben eines Menschen verändert und ihm geholfen, Verantwortung für seine Familie zu übernehmen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl der Erfüllung.”
Supermarkt Ali
Nachdem Yazan wieder laufen konnte, meldete Wissam ihn bei einem IRC-Projekt an, das Binnenvertriebenen hilft, kleine Unternehmen zu gründen. Dort erhielt er Schulungen und einen Gründungszuschuss, um ein Geschäft zu eröffnen.
Yazan entschied sich für ein kleines Geschäft, in dem er hauptsächlich Süßigkeiten verkauft. Er nennt seinen Laden „Supermarkt Ali“, nach dem ältesten Sohn seines Bruders. Ali liebt es, Yazan in seinem Laden zu besuchen. Jedes Mal, wenn er im Laden vorbeischaut, bekommt er ein Eis.
Aus Liebe zu meinem Sohn habe ich den Supermarkt „Ali“ genannt. Als ich den Laden eröffnet habe, musste ich mich wieder mehr bewegen und aktiver sein. Das hat sich positiv auf meine Stimmung ausgewirkt und ich konnte meinen Lebensunterhalt wieder selbst verdienen.
Nach dem Anschlag und Tod des Bruders adoptierte Yazan die drei Kinder seines Bruders. Er behandelt Ali und seine beiden Schwestern wie seine eigenen Kinder, sie nennen ihn „Baba“. Besonders zu Ali hat Yazan eine ganz besondere Bindung. Seit es ihm besser geht, spielt er viel mit den Kindern und lernt mit ihnen für die Schule. Seine größte Hoffnung ist, dass seine Kinder studieren können und eine bessere Zukunft haben.
Dank seiner Willenskraft und der Unterstützung von IRC kann Yazan wieder selbständig für seine Familie sorgen. Trotzdem besucht ihn Wissam noch regelmäßig und ist immer da, wenn Yazan reden möchte. Heute blickt Yazan wieder hoffnungsvoller in die Zukunft: „Ich wünschte, ich wäre nicht verletzt worden, aber das ist mein Schicksal. Gott sei Dank kann ich heute wieder gehen. Dank Gott und IRC kann ich mein Leben gesund fortsetzen.”
Über das Programm
Die vielschichtige Unterstützung, die Yazan von IRC erhalten hat, ist Teil des Projekts „Kritische multisektorale humanitäre Hilfe für konfliktbetroffene Haushalte in Nordsyrien“, das IRC gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt umsetzt. Eine wichtige Komponente des Projekts ist humanitäre Bargeldhilfe für besonders vulnerable Klient*innen, die sie für lebensnotwendige Anschaffungen, Schutz vor Gewalt oder – wie in Yazans Fall – für gesundheitliche Eingriffe nutzen können.
*Namen aus Datenschutzgründen geändert