„Niemand ist jemals nur ein Flüchtling. Niemand ist jemals nur eine Sache.”
Daran erinnerte die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie die Welt 2016 in ihrer berühmten Rede an die Vereinten Nationen. Sie bezog sich dabei auf Medien, die häufig Bilder zeichnen, die Geflüchtete auf einen Aufenthaltsstatus reduzieren, die sie entmenschlichen, die einen vergessen lassen, dass hinter jedem Flüchtling auch eine Geschichte steckt. Gleiches geschieht auch durch Spekulationen über mögliche Gefahren für das Gastland. Solche einseitigen Narrative über Menschen, deren Lebensgrundlagen durch Kriege und Naturkatastrophen zerstört wurden, bergen die Gefahr, dass sich Vorurteile manifestieren.
Im Gegensatz dazu gibt es fantastisch erzählte Geschichten über widerstandsfähige Persönlichkeiten, die ihre Leben fernab von Zuhause neu aufbauen . Wir haben Autor*innen, Literaturagent*innen, Zeitschriftenverleger*innen und Festivaldirektor*innen aus Deutschland, den USA und Großbritannien nach Empfehlungen für Bücher und Magazine gefragt, die neue Perspektiven eröffnen und Stereotypen über Geflüchtete brechen.
Hier sind unsere Top Fünf.
„Exit West” von Mohsin Hamid
„Exit West” von Mohsin Hamid ist ein unglaublich spannendes Buch. Romantisch, verspielt, verheerend und ambitioniert erzählt der Roman die Geschichte des Liebespaars Saeed und Nadia, die sich auf eine Odyssee begeben. Von einem unbenannten Staat kurz vor dem Ausbruch eines Bürgerkriegs brechen sie auf nach Mykonos, London und San Francisco – und machen dabei Stereotypen und vorhersehbare Erwartungen zunichte. Als Antwort auf die Flüchtlingskrise scheute sich „Exit West” nicht, die großen Fragen zu stellen und auf Hamids Zukunftsvisionen einzugehen, obwohl die Handlung in einer Welt stattfindet, die magischer ist als unsere eigene, in der Migrant*innen durch undurchsichtige Orte ziehen, die aber nicht hoffnungslos ist. Eindringlich, wütend, und nicht aus der Hand legbar, wirft „Exit West” die Frage auf, was die Leser*innen tun würden, wenn sie sich in Saeed und Nadias Haut wiederfänden.
Empfohlen von Victoria Gosling, einer britisch-deutschen Autorin, die das literarische Netzwerk The Reader Berlin und den Berlin Writing Prize ins Leben gerufen hat. Ihr Debütroman The Mysteries wird im Sommer 2020 vom Verleger Serpent's Tail herausgebracht.
„Migrant Journal”
Die Menschen stellen sich Grenzen oft wie Dämme vor – massive Barrieren, die von einem Kontrollraum aus gesteuert werden – und vergessen, dass sie Wind und Wasser durchlassen, was auch für Empathie gelten sollte. Migrant Journal versteht die vielen Bewegungen auf unserem Planeten und auch dass menschliche Migration eine von vielen Ebenen ist, die sich in der vielfältigen Themenauswahl wiederfindet. Die sechs wunderschön gestalteten Ausgaben (im Mai erscheint die nächste) widmen sich „der Zirkulation von Menschen, Gütern, Informationen, Fauna und Flora um die ganze Welt und den daraus folgenden Veränderungen des Weltraums. Die Leser erfahren zum Beispiel mehr über die festungsartigen Grenzzäune um Ceuta, einer EU-Enklave in Nordafrika, aber auch über den Tunnel der Teilchenbeschleuniger des CERN, in denen Protonen tausende Male pro Sekunde über eine andere EU-Grenze rasen.
Empfohlen von Jake Schneider, Chefredakteur von SAND, einem Magazin für Literatur und Kunst. Jake lebt in Berlin, 6.375 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt.
„Silence Is My Mother Tongue” von Sulaiman Addonia
„Silence Is My Mother Tongue” erzählt die Geschichte der einfallsreichen, egozentrischen und hingebungsvollen Saba, ihrem sensiblen, fürsorglichen und stummen Bruder Hagos und dem ostafrikanischen Lager, in dem sie nach der Flucht vor einem Krieg leben. Ich war bewegt von Addonias Hingabe an eine vollständige und intime Darstellung des täglichen Lebens im Flüchtlingslager und seiner Transformation des typischen Narrativs - obwohl es keinen Mangel an Gewalt und Auseinandersetzungen gibt, konzentriert sich das Drama und die Aufmerksamkeit des Buches auf die innere Motivation der Charaktere. „Silence Is My Mother Tongue” ist mehr als ein Roman über die Entbehrungen des Lebens im Exil. Es ist eine Geschichte über die Liebe und das Verlangen und was es bedeutet, die eigene Stimme zu entdecken.
Empfohlen von Yana Makuwa, die in Simbabwes Haupstadt Harare aufgewachsen ist bevor sie ihr Literaturstudium an der Cornell Universität in den USA begann. Heute arbeitet Yana bei Graywolf Press als Assistant Editor und lebt in Minneapolis, Minnesota.
„Gehen, ging, gegangen” von Jenny Erpenbeck
„Gehen, ging, gegangen” ist ein Roman, der 2015 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2018 in englischer Übersetzung auf der Longlist zum Man Booker International Prize stand. Es ist das siebte Buch der 1967 in der DDR geborenen, vielfach ausgezeichneten Regisseurin und Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Bei Erscheinen ebenso kontrovers diskutiert wie sein thematischer Fokus Flucht und Migration, wirft der Roman mithilfe dokumentarischer Passagen die Frage auf, welche Menschen sich eigentlich hinter diesem verallgemeinernden Begriff „Flüchtling“ befinden. Zwar bleibt das Buch mit seinem weißen alten Mann als Hauptfigur verhaftet in Perspektiven, die es gilt endlich politisch und literarisch zu ergänzen. Dennoch führt uns Erpenbeck an den Alexanderplatz, in die Mitte unserer Gesellschaft, Hauptstadt, Republik und leistet vielleicht eben dadurch einen Denkanstoß, der durchaus lesenswert ist.
Empfohlen von Stefanie Hirsbrunner, eine der Direktorinnen der literarischen Agentur InterKontinental und Organisatorin von Berlins African Book Festival, das sich in diesem Jahr auf das Thema „Transitioning from Migration” konzentrierte.
„Während die Welt schlief“ von Susan Abulhawa
„Während die Welt schlief“ von Susan Abulhawa ist ein Roman über Flucht und Vertreibung. Aber auch über das, was danach kommt. Denn dem Ort des Grauens entflohen zu sein, ist vielleicht nicht die größte Herausforderung einer Geflüchteten. Was folgt, ist, sich in einer Welt zu bewegen, in der auf den ersten Blick alles gut und die Geflüchtete sicher ist. Doch die Menschen hier teilen ihre Erfahrungen nicht und haben grundsätzlich andere, in vielen Fällen nicht gerade existenzielle Sorgen. Sie sind im schlimmsten Fall nicht einmal interessiert an der Zerstörung, die in ihrer Heimat noch immer stattfindet – wenn diese Nachrichten es überhaupt in die Medien der neuen Welt schaffen. Und dann ist da noch die Sache mit der Suche nach dem inneren Frieden, auf dem nun Hass und Trauer schwer wiegen. Das sind die großen Themen des Romans, der den Blick auf die Verarbeitung des Widerfahrenen richtet und damit neue Einblicke eröffnet.
Empfohlen von Nina Alerić, die als junges Mädchen mit ihrer Familie von Bosnien nach Deutschland floh und heute als Regionalreferentin Bildung für IRC Deutschland arbeitet.