Uwe Wittstock ist Bestsellerautor von „Marseille 1940“, einem Werk, das die Geschichte von Varian Fry und dessen lebensrettende Fluchthilfe während des Zweiten Weltkriegs beleuchtet. Im Gespräch mit International Rescue Committee reflektiert er die Gemeinsamkeiten zwischen den Fluchtbewegungen von 1940 und den Herausforderungen im Jahr 2024 und erklärt, warum dieses Thema heute so relevant ist.
Was hat Sie dazu bewogen, sich so intensiv mit dem Ende der Weimarer Republik und den Themen Flucht und Exil auseinanderzusetzen?
Heute sind es Rechtspopulisten, die spätestens seit Berlusconi in Europa große Wahlerfolge erzielen. Damals führte das zum Weltkrieg, wohin es heute führt, ist noch unklar.
Die 1920er und 1930er Jahre sind heute auf eine gespenstische Weise wieder gegenwärtig geworden. Zwischen Mussolinis Regierungsübername 1922 in Italien und dem Sieg Francos im spanischen Bürgerkrieg 1938 kamen in halb Europa faschistische Regime an die Macht. Heute sind es Rechtspopulisten, die spätestens seit Berlusconi in Europa große Wahlerfolge erzielen. Damals führte das zum Weltkrieg, wohin es heute führt, ist noch unklar. Außerdem hat mich die deutsche Literatur der Weimarer Republik und der Exilzeit schon immer fasziniert, weil sie die extremen politischen Spannungen der Epoche spiegelt. Auch im Leben der Literaturschaffenden zeigen sich diese Spannungen. Ich habe insgeheim den Verdacht, wenn man ihre Biografien nur genau genug betrachtet, lernt man auch etwas über unsere Gegenwart – vielleicht sogar etwas über unsere Zukunft.
Im Vorwort Ihres Buchs schreiben Sie, „für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden“. Wie machen Sie das?
Ich erzähle von den Fluchten großer Autoren und Autorinnen vor den Nazis eng entlang ihrer Erinnerungen, die sie in Briefen, Tagebüchern, Autobiografien, Interviews hinterlassen haben. „Marseille 1940“ rekonstruiert die Dramen dieser Fluchten anhand der Erinnerungen der Beteiligten und Zeitzeugen. Nicht jede dieser Erinnerungen ist hundertprozentig präzise, das sind Erinnerungen nie. Deshalb würde ich nie behaupten, es handele sich in jedem Punkt um historisch unbezweifelbare Tatsachen. In der Genauigkeit, die man fürs Erzählen braucht, lassen sich historische Fakten ohnehin nicht ermitteln. Aber wenn eine kunstschaffende Person in ihrer Autobiografie von der Angst berichtet, die sie oder er in einer bestimmten Situation erlebt hat und davon, was er gesagt oder getan hat, bekommt die Szene eine Lebendigkeit und fast filmische Plastizität, von der man fesselnd erzählen kann.
Wie ihr Buch „Marseille 1940“ hat auch die Netflix-Serie „Transatlantic“ die Geschichte des amerikanischen Fluchthelfers Varian Frys thematisiert – allerdings in fiktiver Form. Sehen Sie einen aktuellen Anlass für das gestiegene Interesse an dem Thema?
Die Fragen von Flucht und Migration gehören heute zu den beherrschenden Themen der Politik in aller Welt. Bislang hat, soweit ich sehen kann, niemand eine Antwort darauf gefunden, die sowohl moralisch wie auch politisch rundum befriedigend ist. In so einer Situation liegt es nahe, zu schauen, wie in der Vergangenheit mit diesem Thema umgegangen wurde. Also, ob wir etwas daraus lernen können, wie Schutzsuchende früher behandelt wurden. Heute fliehen viele Menschen vor Kriegen aus dem Süden in den Norden. Damals, 1940, flohen deutsche geisteswissenschaftlich Tätige, Intellektuelle und Theaterschaffende vor dem Krieg vom Norden nach dem Süden, von Deutschland nach Südfrankreich oder auch Nordafrika. Dieser Wechsel der Perspektive stellt die Probleme von Flucht und Exil plötzlich in einem ganz anderen Licht dar.
„Marseille 1940“ zeigt, wie schnell sich Menschen durch politische, soziale oder wirtschaftliche Geschehnisse in der Situation wiederfinden, selbst Geflüchtete zu sein.
Ich glaube, es ist sinnvoll zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden, auch wenn das schwierig ist. Jüdische Menschen, kritische Kunstschaffende, Anhänger des Kommunismus und der Sozialdemokratie hatten in Hitlers Deutschland nahezu keine Überlebenschance. Sie mussten fliehen, wenn sie am Leben bleiben wollten. Sie mussten auch aus Frankreich fliehen, als die deutsche Wehrmacht das Land innerhalb von nur sechs Wochen eroberte. Die Gestapo machte Jagd auf sie. Migration aus wirtschaftlichen Gründen hat auch ihr Recht, natürlich, aber auch eine andere Funktion und Dringlichkeit. Mit anderen Worten: Es braucht schnelle Hilfe für Menschen, die unmittelbar vom Tod bedroht sind, und daneben legale Wege der Migration.
In „Marseille 1940“ gehen Sie auf die gezielte Tötung senegalesischer Soldaten in Frankreich durch die Wehrmacht ein. Wie wichtig war es für Sie, auch von der Kolonialgeschichte Europas zu erzählen?
Ich habe mir das nicht von Anfang an vorgenommen. Wenn man vom Vormarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich 1940 erzählt, stößt man automatisch auf die Massaker, die deutsche Soldaten an Schwarzen in der französischen Armee verübt haben. Sie waren Hitlers afrikanische Opfer. Diese Massaker sind ein weiterer Beleg für das hemmungslos rassistische und verbrecherische Wesen des Faschismus und Nationalsozialismus.
Wie sehen Sie die Debatten über die Migrationspolitik angesichts des aktuellen Rechtsrucks in Deutschland?
Es ist wichtig, legale Wege der Migration zu schaffen, die auch den Sicherheitsbedürfnissen unseres Landes gerecht werden.
Es wird allzu leicht und allzu schnell von einer Migrationskrise gesprochen. Wenn man von „Krise“ spricht, fällt man auf die Propaganda der AfD herein. Ohne Migration nach Deutschland wäre der Wohlstand in unserem Land nicht aufrecht zu erhalten. Natürlich erzeugt Migration Probleme, auch Sicherheitsprobleme. Aber ohne Migration stünden wir vor viel größeren Schwierigkeiten wirtschaftlicher Art. Deshalb ist es ja so wichtig, legale Wege der Migration zu schaffen, die auch den Sicherheitsbedürfnissen unseres Landes gerecht werden.
Welche Rolle können Literatur und Kunst spielen, um dem Aufstieg des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus entgegenzuwirken? Sehen Sie eine ähnliche Bedeutung für die deutsche Literatur heute wie in der Weimarer Republik?
Es braucht nicht viel, nur zwei, drei fatale Fehlentscheidungen bei Wahlen und jeder kann sich mit einem Koffer in der Hand auf der Flucht in einem fremden Land wiederfinden.
Über die politische Wirkung von Literatur zu sprechen, ist immer schwierig. Meist erreicht die Literatur, die eine bestimmte politische Absicht hat, ja nur diejenigen, die diese Absicht schon vorher teilten. Aber manchmal kann es der Literatur gelingen, ein allgemeines Problem so lebendig und individuell zu schildern, dass es die Lesenden mit besonderer Macht ergreift. Die allermeisten Menschen in Deutschland haben das Glück, nicht auf der Flucht zu sein. Ich auch. Aber wir sollten uns gelegentlich vor Augen stellen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eben: Glück. Auch Heinrich und Thomas Mann, Hannah Arendt, Franz Werfel, Anna Seghers und all die anderen Personen aus meinem Buch hätten niemals gedacht, Geflüchtete zu werden. Plötzlich waren sie es. Es braucht nicht viel, nur zwei, drei fatale Fehlentscheidungen bei Wahlen und jeder kann sich mit einem Koffer in der Hand auf der Flucht in einem fremden Land wiederfinden.
Im Buch erwähnen Sie einige große Werke wie „Das Siebte Kreuz” von Anna Seghers oder „Henri Quatre“ von Heinrich Mann. Welche Bücher aus dieser Zeit und über die Arbeit des Fluchthelfers Varian Fry würden Sie heute besonders Lesenden ans Herz legen?
„Transit” von Anna Seghers
Anna Seghers hat Marseille im Winter 1940/41 erlebt, dem kältesten Winter seit Jahrzehnten. In ihrem hinreißenden Roman beschreibt sie Marseille als eine eisige Stadt, die Schauplatz der Flucht und der Hoffnungslosigkeit vieler Menschen auf der Suche nach Sicherheit wird.
„Exil” von Lion Feuchtwanger
Lion Feuchtwanger schrieb den spannenden Politthriller, inspiriert durch eine historisch verbürgte Intrige von Hitlers Geheimdienst, der gegen Geflüchtete in Paris vorging.
„Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque
Erich Maria Remarque hat sich selbst frühzeitig in Sicherheit gebracht, entwickelte aber aus den mündlichen Berichten vieler Geflüchteter, denen er finanziell geholfen hat, den berührenden Roman.
„Auslieferung auf Verlangen“ von Varian Fry
Für diejenigen, die mehr über Varian Fry und seine Fluchthilfeorganisation Emergency Rescue Committee eine Vorläuferorganisation von International Rescue Commitees, erfahren möchte, sollte seine Autobiografie lesen.
„Mein Weg über die Pyrenäen“ von Lisa Fittko
Lisa Fittko, eine der wichtigsten Helferinnen Varian Fry, beschreibt in ihrem überwältigendem Buch, wie sie mit ihrem Mann Hans ein halbes Jahr lang unter Einsatz ihres Lebens Geflüchtete über die Pyrenäen nach Spanien schmuggelten. Das Werk lässt sich nicht nur den Heldenmut von Lisa und Hans Fittko erkennen, sondern es ist auch glänzend geschrieben.
„Crossroads Marseille“ von Mary Jayne Gold
In ihrer Autobiografie erzählt Mary Jayne Gold, eine wohlhabende Mitarbeiterin von Varian Fry, von ihrer Zeit in Marseille. Sie spendete über eine halbe Million Dollar für Frys Organisation und erlebte in Marseille eine eigenwillige Liebesgeschichte, eine Amour Fou mit einem zehn Jahre jüngeren Deserteur, der sie bestahl und doch über alle Maßen liebte. Leider ist Golds Buch nie ins Deutsche übersetzt worden und auch in Amerika schwer zu kriegen. Aber in Französisch ist es zu bekommen – und die Lektüre lohnt sich, glauben Sie mir.
Varian Fry und International Rescue Committee
Varian Fry, ein amerikanischer Journalist, rettete während des Zweiten Weltkriegs mehr als tausend Menschen. Gemeinsam mit International Rescue Committee (IRC) half er zahlreichen Künstlern und Intellektuellen, der Verfolgung durch das Nazi-Regime zu entkommen.
Erfahre mehr über die Entstehungsgeschichte von IRC.