Unsichere Aufenthaltsbedingungen, fehlende Privatsphäre in Unterkünften, der Verlust von Heimat und sozialen Netzwerken sowie veränderte familiäre Rollen können bei Eltern mit Fluchterfahrung leicht zu Überforderung und Ängsten führen. Das IRC-Programm „Families Make The Difference” (FMD) wurde entwickelt, um Eltern und Bezugspersonen in Krisensituationen und nach Fluchterfahrungen zu stärken. 

In 16 Ländern führt IRC FMD-Projekte durch, die jeweils auf die Bedürfnisse der teilnehmenden Familien zugeschnitten sind. In Deutschland bietet IRC seit 2019 Gruppentreffen für geflüchtete Eltern an. Die Treffen finden in den Erstsprachen der Teilnehmenden statt und werden von Menschen aus der Community geleitet. Ein Beispiel ist die arabischsprachige Elterngruppe in Erfurt, die wir für diesen Artikel besucht haben. Gruppenleiter Nader sowie das Ehepaar Ghada und Mohammed erzählen von ihren Erfahrungen und erklären, warum die Gruppen für die Eltern so wichtig sind.

Nader: Vater, Vereinsvorstand und FMD-Gruppenleiter

„Die Eltern kommen oft zu unseren Elterngruppen, weil sie sich Sorgen um ihre Kinder machen. In unserer Kultur ist jedes Kind ein Schatz. Die meisten Eltern sind nicht wegen sich selbst nach Deutschland gekommen, sondern wegen ihrer Kinder. Sie wollen, dass ihre Kinder hier erfolgreich sind, sich gut integrieren, lernen und vielleicht studieren. Gleichzeitig haben sie Angst, ihre Kinder zu verlieren. Als Gruppenleiter möchte ich ihnen diese Angst nehmen und ihnen zeigen, wie sie ihre Kinder beim Ankommen in Deutschland begleiten können, ohne den Bezug zu ihrer Kultur zu verlieren“, sagt Gruppenleiter Nader.

Die meisten Eltern sind nicht wegen sich selbst nach Deutschland gekommen, sondern wegen ihrer Kinder. Sie wollen, dass ihre Kinder hier erfolgreich sind, sich gut integrieren, lernen und vielleicht studieren.

Nader ist in Aleppo aufgewachsen und lebt seit sieben Jahren mit seiner Frau und zwei Kindern in Erfurt. Sein Sohn war bei der Flucht vier Jahre alt, seine Tochter wurde in Deutschland geboren. Die Kinder waren seine größte Motivation, schnell Deutsch zu lernen und sich in der neuen Umgebung einzuleben. Doch auch Nader und seine Frau hatten anfangs Bedenken, ob sie ihren Sohn ausreichend unterstützen können: „Wir haben versucht, ihm zu Hause extra viel Liebe und Zuneigung zu geben und in der Kita immer zu zeigen, dass wir alles ernst nehmen. Aber wir waren selbst noch Hilfesuchende und wussten auf viele Fragen keine Antwort“, erinnert sich Nader.

Mit großem Engagement besuchten Nader und seine Frau Sprach- und Integrationskurse, knüpften Kontakte und fanden Anschluss in der neuen Nachbarschaft. Doch Nader fiel auf, dass es kaum Unterstützungsangebote gab, die gezielt auf die Sorgen, Ängste und Bedürfnisse geflüchteter Familien eingingen. Kurzerhand beschloss er, selbst aktiv zu werden und gründete einen syrischen Kulturverein in Erfurt.

Ein Mann sitzt an einem Tisch in einem Raum mit Bücherregalen im Hintergrund und lächelt in die Kamera.
„Egal mit wie viel Empathie uns Außenstehende begegnen, sie können nicht zu 100 Prozent sehen, was wir brauchen“, sagt Nader. „Also dachte ich mir: Warum müssen wir immer auf Angebote warten, wenn wir sie auch selbst schaffen können?“
Foto: Iuna Vieira/IRC

Neben seiner Arbeit als FMD-Gruppenleiter und seinem Engagement im syrischen Kulturverein studiert Nader Politikwissenschaften, unterstützt seine Frau in ihrem Buchladen und arbeitet hauptberuflich für eine soziale Organisation. Dabei hat Nader ein klares Ziel vor Augen: „Ich wünsche mir eine Zukunft, in der meine Kinder Begriffe wie Diskriminierung, Rassismus oder Flüchtling nicht mehr kennen und einfach als Menschen gesehen werden. Mit meinem Engagement möchte ich dazu beitragen, dass wir diese Spaltung der Gesellschaft eines Tages überwinden.

Ich wünsche mir eine Zukunft, in der meine Kinder Begriffe wie Diskriminierung, Rassismus oder Flüchtling nicht mehr kennen und einfach als Menschen gesehen werden.

Arabische Elterngruppe in Erfurt

Zwei Jahre nach seiner Gründung hat sich der Syrische Kulturverein in Erfurt etabliert und ist zu einer wichtigen Anlaufstelle für geflüchtete Syrer*innen geworden. Als migrantische Selbstorganisation baut der Verein eine Brücke zwischen der syrischen Community und der deutschen Aufnahmegesellschaft sowie anderen Communities. Neben Kulturveranstaltungen und Arabischkursen für Kinder bietet der Verein in Kooperation mit IRC wöchentliche Elterngruppen an. Bei diesen Treffen sprechen die Eltern über selbstgewählte Themen, tauschen Erfahrungen aus und stärken sich gegenseitig. Als Gruppenleiter moderiert Nader die Runden und schafft einen Raum, in dem sich alle sicher und gehört fühlen. Dass die Gespräche auf Arabisch stattfinden, ist essenziell, denn „wenn die Teilnehmenden auf ihrer Erstsprache sprechen, müssen sie nicht erst die richtige Formulierung finden, sondern können einfach teilen, was sie beschäftigt“, erklärt Nader.

Eine Gruppe von Menschen sitzt an einem Tisch in einer lockeren Gesprächsrunde, während eine Person mit Kopftuch im Vordergrund zu sehen ist.
Nader (rechts) beim Treffen einer Elterngruppe.
Foto: Iuna Vieira/IRC

Ein zentrales Thema der Gruppen ist die Frage nach Identität. Viele Eltern haben Angst, dass ihre Kinder ihre Kultur und Sprache vergessen und sich dadurch die Beziehung zu ihnen verändert. In den Gruppen lernen sie, dass Identität mehr ist als Religion und Nationalität, und erhalten Tipps, wie sie ihre Kinder im Kontakt mit ihrer Herkunft bestärken und gleichzeitig offen für neue Erfahrungen bleiben können. Besonders der Austausch zwischen verschiedenen Generationen bereichere die Treffen, sagt Nader: „Unter den Teilnehmer*innen sind junge Frauen, frisch Verheiratete und Alleinerziehende, aber auch Omas und Opas. Diese Vielfalt macht den Erfahrungsaustausch so besonders. 

Das Ehepaar Mohammed und Ghada lebt seit zehn Jahren in Erfurt. Mohammed war in Syrien Rechtsanwalt, Ghada Englischlehrerin. Heute arbeitet er bei Amazon, sie als Arabischlehrerin für Kinder. Beide engagieren sich ehrenamtlich im syrischen Kulturverein. Sie besuchten die Elterngruppe, um ihre Enkelkinder besser begleiten zu können. „Das Thema Identität hat mich sehr beschäftigt. Viele Kinder, die im Kindergarten und in der Schule nur Deutsch sprechen, haben ihre Muttersprache vergessen und können sich mit ihren Eltern nicht richtig verständigen. Das belastet die Beziehung zwischen Eltern und Kindern“, erklärt Ghada.

Ein Mann und eine Frau mit Kopftuch stehen zusammen in einem Park, mit Wohngebäuden im Hintergrund, und blicken in die Kamera.
Mohammed und Ghada auf dem Weg zu einer Elterngruppe.
Foto: Iuna Vieira/IRC

„Ich finde, dass es mehr solcher Projekte geben sollte. Das ist wirklich eine große Hilfe für die Familien. Es bräuchte noch viel mehr Angebote für psychologische Hilfe in der Muttersprache“, sagt Mohammed. 

In der Gruppe haben Ghada und Mohammed Methoden gelernt, um in schwierigen Situationen auf Augenhöhe mit ihren Enkelkindern zu kommunizieren: „Wenn unser Enkel motzig ist oder schreit, dann stresst das auch seine Eltern. Dank der Methoden, die wir in der Gruppe gelernt haben, können wir ruhiger und auf Augenhöhe mit ihm sprechen und ihm aufrichtig zuhören, statt gleich zu schimpfen. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht und schon viele Konflikte gelöst“, sagt Ghada.

Eine Gruppe von Menschen sitzt an einem Tisch mit Obst und Tassen, während eine Person im Vordergrund mit dem Rücken zur Kamera sitzt.
Mohammed und Ghada im Gespräch mit anderen Teilnehmenden.
Foto: Iuna Vieira/IRC

Ein sicherer Raum für Gefühle und Austausch

Auch Diskriminierungserfahrungen sind ein wichtiges Thema. Insbesondere Frauen, die ein Kopftuch tragen, berichten häufig von antimuslimischen Anfeindungen. Nader erzählt, wie auch seine Frau davon betroffen ist. Als sie sich vor kurzem den Traum eines eigenen Buchladens erfüllte, lasen sie unter dem Berichte darüber in den sozialen Medien viele Anfeindungen in den Kommentaren. Aber es gab auch viele fremde Menschen, die sie verteidigten. In den Elterngruppen können die Frauen über solche Erfahrungen sprechen, sich Rat holen und sich gegenseitig stärken.

Drei Personen sitzen an einem Tisch, zwei Frauen mit Kopftüchern und ein Mann, während eine der Frauen lächelnd in die Kamera schaut.
Teilnehmerin Sausan teilt, was sie heute beschäftigt, Ghada hört ihr wie immer aufmerksam zu.
Foto: Iuna Vieira/IRC

„Gerade geflüchtete Mütter erleben einen enormen Druck und Stress. Sie denken, sie müssten immer für ihre Familie da sein und ihre Sorgen alleine bewältigen. In den Gruppen lernen sie, wie wichtig es ist, sich Zeit für sich selbst zu nehmen und ihre Batterien wieder aufzuladen“, betont Nader. Die FMD-Gruppen sind so aufgebaut, dass nach einem zweistündigen Programm mit konkreten Inputs noch Zeit für den freien Austausch bleibt. „Wir haben darüber geweint, was uns und den Kindern im Krieg passiert ist, und uns dann gegenseitig getröstet und gestärkt“, erzählt Ghada. Für viele Teilnehmende sind sie nicht nur ein Ort des Austauschs, sondern auch der Selbstermächtigung, die sie in ihren Alltag mitnehmen und an andere weitergeben können.

Wir haben darüber geweint, was uns und den Kindern im Krieg passiert ist, und uns dann gegenseitig getröstet und gestärkt.

Wie unterstützt IRC geflüchteten Eltern?

Mit dem FMD-Ansatz setzt IRC sich an der Seite von migrantischen Selbstorganisationen wie dem syrischen Kulturverein für geflüchtete Familien und deren Teilhabe in Deutschland ein. Bereits 3743 Eltern haben an Elterngruppen teilgenommen und gemeinsam über Themen wie Mehrsprachigkeit, Identität und gewaltfreie Kommunikation gesprochen und neues Wissen erlangt. Bisher wurden die Gruppen in den Sprachen Arabisch, Ukrainisch, Dari, Farsi, Kurmancî, Russisch und Sorani angeboten. Viele Gruppen bestehen auch lange nach Ende der formalen Treffen weiterhin fort und die Beziehungen und Inhalte stärken Eltern und dadurch auch Kinder langfristig. 

Erfahre mehr im Handbuch von Families Make The Difference und Zusatzheft Trauma und Psychosoziale Erste Hilfe für Kinder und Jugendliche”. 

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