Etwa 419.000 Afghan*innen leben aktuell in Deutschland. Viele von ihnen sind nach dem Machtwechsel 2021 nach Deutschland gekommen. Migrantische Selbstorganisationen wie das „Afghanistan Studies and Cooperation Center e.V.” haben es sich zur Aufgabe gemacht, Afghan*innen miteinander zu vernetzen. So können Afghan*innen, die schon lange in Deutschland leben, neu angekommene Familien mit ihren Erfahrungen unterstützen. Als Partnerorganisation setzt IRC gemeinsam mit dem Verein mehrere Projekte um.
In diesem Artikel erfährst du mehr über die Zusammenarbeit, sowie die Menschen und die Motivationen hinter der Arbeit einer Migrant*innenselbstorganisation.
Unterstützung bei den ersten Schritten in Deutschland
„Es ist für mich selbstverständlich, dass ich mich für Menschen einsetze, die gerade angekommen sind. Ich kenne die Probleme, die entstehen, wenn man in einem neuen Land ist, die Sprache nicht spricht und die Kultur noch nicht kennt. Diese Erfahrungen wollte ich an die Afghan*innen weitergeben, die neu in Deutschland sind”, sagt Vereinsvorstand Safi Khaliqi über sein Engagement.
Ich wollte eine Brücke bauen zwischen den Afghan*innen, die neu sind, und denen, die wie ich schon länger hier sind.
Aus den gleichen Gründen, setzt sich auch Imamudin Hamdard für die Community ein. Er und seine Familie standen am Anfang vor vielen Herausforderungen in Deutschland: Wohnungssuche, Bürokratie, die Kommunikation mit dem Jobcenter, Sprachbarrieren und eine ganz andere Arbeitskultur. Sie bekamen Unterstützung von Bekannten aus Afghanistan, die schon lange in Deutschland lebten. Inzwischen gehen Imamudins Kinder zur Schule. Die jüngste Tochter, Nahid, absolviert gerade ein Praktikum in einer sozialen Einrichtung. Die älteste Tochter, Gulsom möchte Medizin studieren. Der Sohn Emadudin träumt von einem Kunststudium. Imamudin und seine Frau Malalai besuchen Deutschkurse. Eines Tages möchte er wieder im Büro einer NGO oder Stiftung arbeiten und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft.
Die Unterstützung, die Imamudin erhalten hat, wollte er auch anderen Afghan*innen ermöglichen, die noch kein Netzwerk in Deutschland hatten. Also gründete er gemeinsam mit Safi, der schon fünf Jahre in Deutschland lebt, das „Afghanistan Studies & Cooperation Center e.V.”.
Seit 2022 steht der Verein Afghan*innen in Deutschland zur Seite und setzt sich in den Bereichen Bildung, Kultur und Netzwerkarbeit für die Community ein. Neben Sprachkursen, Computerkursen und Beratungsangeboten für Menschen mit Fluchterfahrung möchte ASCC auch das Verständnis für Afghanistan innerhalb der deutschen Gesellschaft verbessern. Dafür bietet der Verein Seminare, Diskussionsrunden und akademische Veranstaltungen an, in denen die Teilnehmenden einen Einblick in die Geschichte, Religion und Kultur Afghanistans erhalten.
„IRC und Afghanistan Studies & Cooperation Center e.V. haben das gleiche Ziel: Geflüchteten bei der Integration zu helfen. Unser Verein ist noch sehr neu, wir haben noch nicht viele finanzielle Mittel, aber wir haben etwas sehr Wichtiges: Den Kontakt und das Vertrauen von der Community. Wir wissen, was sie brauchen, weil wir selbst neu sind und dasselbe erlebt haben. Wir bringen Menschen zusammen. Deshalb sind wir sehr froh, mit IRC zusammenzuarbeiten, gemeinsam können wir unser Ziel leichter erreichen“, sagt Imamudin.
Das gemeinsame Projekt „Khush Amdeed“, was auf Dari „Willkommen“ heißt, gibt Geflüchteten direkt nach ihrer Ankunft eine erste Orientierungshilfe. Die Treffen werden sowohl online als auch in Person angeboten und Teilnehmende bekommen wichtige Materialien und Videos über Behörden und die Anerkennung ihres Aufenthaltsstatus, durch die sie sich besser auf die nächsten Schritte vorbereiten können. Auch hier sind das ASCC und andere Migrantische Selbstorganisationen wichtige Partner.
Ein Computerkurs, der Türen öffnet
Im Bereich Bildung setzt das „Afghanistan Studies & Cooperation Center e.V.“ sich für mehr Chancengleichheit für Afghan*innen in Deutschland ein. Dabei sind digitale Fähigkeiten besonders wichtig. Zweimal wöchentlich bietet der Verein einen Computerkurs für Anfänger*innen an. Der Kurs ist Teil des IRC-Projekts „CODE-UP”, das von Anne Limpert geleitet wird. Menschen mit Fluchterfahrung können hier digitale Kompetenzen erwerben, die wichtig für den deutschen Arbeitsmarkt und ihren Alltag sind.
Die Teilnehmenden lernen, Navigations-Apps zu nutzen, digitale Formulare auszufüllen, Bewerbungen zu erstellen und online mit ihren Familien zu kommunizieren.
Der Kurs findet mehrsprachig statt und es wird eine Kinderbetreuung angeboten, damit alle Familienmitglieder teilnehmen können.
„In Afghanistan haben die Menschen oft keine Möglichkeit, den Umgang mit Computern zu lernen, vor allem Frauen. Aber hier in Deutschland ist alles digital. Allein die Türöffner in den Häusern oder die Herdplatten beim Kochen. Viele Familien in unserem Verein hatten am Anfang Angst, die elektrischen Küchengeräte zu bedienen, weil sie das gar nicht kannten. Wir haben in Afghanistan keine Hausnummern und die Leute haben daher keine Erfahrung mit Navigationsapps. Solche digitalen Grundkenntnisse vermitteln wir in den Computerkursen“, erzählt Imamudin.
Imamudins Frau Malalai hatte Afghanistan vor ihrer Flucht nach Deutschland noch nie verlassen. Für sie waren die ersten Wochen schwierig, weil alles neu war. Inzwischen ist Malalai gut in Deutschland angekommen und engagiert sich im Verein. Sie hilft bei Veranstaltungen und hat viele Aktivitäten für die Frauen in der Gemeinde ins Leben gerufen. Zum Beispiel einen kleinen Sparverein, in den alle Frauen monatlich 20 Euro einzahlen und von dem sich dann ein Mitglied eine größere Anschaffung leisten kann.
Begegnungen am „afghanischen Kulturabend“
Das ASCC veranstaltet regelmäßig Kulturveranstaltungen, bei denen sich die Community trifft und vernetzt. Auch Teilnehmende aus anderen Communities sind willkommen und haben die Gelegenheit, afghanisches Essen, Kleidung und Kultur kennenzulernen.
Journalist Basir Daneshyar hält auf Veranstaltungen wie dieser Vorträge über die Geschichte und Kultur Afghanistans. Basir war Dozent an der Universität von Herat in Afghanistan und leitete dort die Abteilung für Kommunikation und Journalismus. Er hat einen Verein für Journalist*innen im Exil gegründet („Afghanistan Journalists Support Organization”) und setzt sich für afghanische Kolleg*innen in Afghanistan, Iran und Pakistan ein.
„Fachkräfte wie ich, die sehr gut ausgebildet sind, leiden hier oft unter mangelnder Anerkennung. Für die Behörden ist es nur wichtig, dass man arbeitet, nicht was man arbeitet. Ich möchte in Zukunft als Fachkraft in meinem Bereich zur Gesellschaft beitragen. Die Behörden haben mir einen Job im Lager angeboten oder bei einer Zeitarbeitsfirma. Das ist im Prinzip keine schlechte Arbeit, aber ich frage mich, ob ich dort für die Gesellschaft am meisten Nutzen bringen kann. Dann nehme ich als hochqualifizierte Fachkraft anderen, die keine Ausbildung haben, diese Arbeitsplätze weg.“
Ich sehe es als unsere Aufgabe als ausgebildete Fachkräfte, Meinungen zu ändern und unsere Gesellschaft von ihrer besten Seite zu zeigen.
Basir gibt die Hoffnung nicht auf, in Deutschland wieder als Journalist zu arbeiten. Bis dahin nimmt er an verschiedenen Veranstaltungen und Diskussionsrunden teil, engagiert sich ehrenamtlich und arbeitet an seinem Deutsch C1-Zertifikat.
„Mit dem Länderabend wollen wir die positiven Seiten der afghanischen Community zeigen. Wir wollen zeigen, dass wir anders sind, als es in den Medien immer dargestellt wird, wir wollen von unserer Musik, unserer Kleidung, unserem Essen und unseren Festen erzählen. Ich sehe es als unsere Aufgabe als ausgebildete Fachkräfte, Meinungen zu ändern und unsere Gesellschaft von ihrer besten Seite zu zeigen“, sagt Basir.
Zum afghanischen Kulturabend ist auch die Menschenrechtsaktivistin Sawita Anwari gekommen. In Afghanistan setzte sie sich für Frauenrechte ein, arbeitete an einer Universität und als Diplomatin. Nach dem Machtwechsel musste sie ein Jahr warten, bis ihr Visum für Deutschland genehmigt wurde. Nur sie und ihre beiden Brüder durften einreisen, ihre Eltern blieben in Iran zurück. Die Sorge um ihre Familie machte Sawita die ersten Wochen in Deutschland besonders schwer.
In Deutschland besuchte Sawita neben einem Deutschkurs auch einen „CODE-UP”-Computerkurs und arbeitet ehrenamtlich in einer Bibliothek. Sie möchte in Deutschland noch einmal studieren, um später wieder an einer Universität zu arbeiten und sich weiterhin für Frauenrechte in Afghanistan und gegen die Diskriminierung von Afghaninnen in Deutschland einsetzen.
„Ich wünsche mir, dass afghanische Frauen in Deutschland Zugang zu Bildung bekommen. Es sollte Seminare, Stipendien und Workshops geben, die ihnen helfen, ihre Ausbildung hier fortzusetzen und sich in die deutsche akademische Welt zu integrieren“.
Mit Hoffnung in die Zukunft
„Nach dem Machtwechsel habe ich nie an ein neues Leben gedacht, ich dachte an jetzt, was in 10 Minuten ist oder was morgen passiert. Aber als ich nach Deutschland kam, sagte ich zu meinem Vater: Ich glaube, das ist mein zweites Leben. Mein erstes Leben ist vorbei. Als ich hierher kam, habe ich dies als mein zweites Leben angesehen. Ich hatte das Gefühl, in meinem ersten Leben in Afghanistan etwas Gutes getan zu haben und das ist meine Belohnung”, sagt Immamudin. „Mein Wunsch für die Zukunft ist es, dieses Gefühl an alle weiterzugeben.”
Viele Menschen sehen nur, dass es sehr schwer ist, in Deutschland neu anzufangen. Aber ich möchte anderen Menschen das Gefühl geben, dass man sich auch hier ein gutes Leben aufbauen kann.
Die Geschichten der Familie von Imamudin, des Journalisten Basir und der Menschenrechtsaktivistin Sawita zeigen, mit welchen Hürden selbst hochqualifizierte Fachkräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. Gleichzeitig geben die Erfahrungen von Afghan*innen wie Safi, die schon länger in Deutschland sind, Hoffnung. Im „Afghanistan Studies & Cooperation Center e.V.“ unterstützen sich die etablierten Deutsch-Afghan*innen und kürzlich geflüchtete Disapora gegenseitig und geben sich Halt.
IRC setzt sich bei der Arbeit im Bereich Beruf und Orientierung an der Seite von Migrantischen Selbstorganisationen wie „ASCC” dafür ein, dass Menschen mit Fluchtgeschichte ihr Leben selbstbestimmt weiterführen können. Durch Projekte wie „CODE-UP” und „Khush Amdeed” erhalten sie wichtige Fähigkeiten und Informationen, um sich bestmöglich im deutschen Arbeitsmarkt zurecht zu finden.