Schule und Kita zu – was jetzt?
Schule als stabilisierendes Umfeld
Schule als stabilisierendes Umfeld
Schul- und Kitaschließungen zur Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19 stellen Kinder und Jugendliche, Eltern und Lehrkräfte auch in Deutschland vor viele Herausforderungen. Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind dabei besonders stark betroffen. Warum? Weil für sie die Kita oder Schule oftmals der Ort ist, der ihnen einen Rahmen gibt, an dem sie sich sammeln und stabiliseren können.
„Wenn ich im Krieg, auf der Flucht oder nach der Ankunft in Deutschland sehr viel Stress, Unsicherheit oder Angst erfahren habe, dann kann die Kita oder Schule zu einem Ort werden, der wieder Halt gibt. Das funktioniert durch klare Routinen und soziale Kontakte, zugewandte Beziehungen, aber auch durch das Spiel mit Gleichaltrigen auf dem Schulhof. Dieses psychosoziale Wohlbefinden ist für alle Kinder wichtig, besonders aber für diejenigen mit Fluchterfahrung. Sie haben oft langanhaltenden, negativen Stress erlebt, sind von ihren Familien getrennt oder mit Eltern in Deutschland, die sich selber noch nicht auskennen“, erklärt Lisa Küchenhoff, Programmleiterin Bildung bei International Rescue Committee Deutschland.
Normalerweise veranstaltet das IRC-Bildungsteam in Schulen und Kitas landesweit sogenannte Healing-Classrooms-Workshops für pädagogische Fachkräfte. IRC-Mitarbeiter*innen vermitteln dabei, wie geflüchtete Kinder und Jugendliche in der jeweiligen Bildungseinrichtung Sicherheit und Halt finden können. Doch nun haben Schulen und Kitas aufgrund der COVID-19-Pandemie geschlossen und das Programm kann nur eingeschränkt umgesetzt werden. Eine gerade durchgeführte IRC-Umfrage unter 160 Lehr- und Fachkräften hat jedoch ergeben: Der Bedarf an dieser Unterstützung ist weiterhin da.
Das Ergebnis ist Bestätigung und Ansporn zugleich. Das Programm, so der Tenor, müsse fortgeführt werden. Erste Erfahrungen seien sehr positiv gewesen und schon Erreichtes wolle man durch eine längere Unterbrechung aufgrund von Schul- und Kitaschließungen nicht gefährden.
So erinnert sich eine Schulleiterin aus Bremen an die vielen Fortschritte, die ihre Schützlinge schon gemacht haben. Doch Lernerfolge, die sich im Unterricht schon eingestellt haben, könnten nun wieder verloren gehen. „Geflüchtete Schüler*innen haben oft niemanden, der oder die ihnen helfen kann“, erklärt die Bremer Schulleiterin. „Die Kinder und Familien sind ganz auf sich allein gestellt. Probleme, auch Traumatisierungen, können den familiären Alltag in der Enge, die wir gerade durchleben, viel stärker beeinflussen.“
Lehrkräfte an ihrer Grundschule nehmen schon seit einigen Jahren am Healing-Classrooms-Programm teil, um zugewanderte Kinder im Schulalltag besser unterstützen zu können. Die Bremer Schulleiterin kann inzwischen von einigen positiven Entwicklungen berichten: Ihre Schüler*innen hätten große Fortschritte hinsichtlich ihrer Sprachkompetenz, der sozialen Kontakte, aber auch ihrer Persönlichkeitsentwicklung gemacht. Sie erzählt vom Schicksal eines Jungen aus Afghanistan, der erlebt habe, wie sein Großvater in der Heimat durch das Fenster erschossen wurde. Der Junge saß neben ihm. Sie schauten Fernsehen, als es geschah. In Deutschland habe der Junge ein Jahr lang mit niemandem in der Schule gesprochen, erinnert sich die Schulleiterin. Er sei wütend gewesen, war oft in Konflikte involviert und konnte sich aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht artikulieren. „Inzwischen ist er im 4. Schuljahr. Er lächelt viel, versteht sehr viel und kann sich gut auf Deutsch verständigen. Meist ist er freundlich, gut gelaunt und hilfsbereit.“
Um diese positive Arbeit fortzuführen, arbeitet das IRC-Team an neuen Inhalten für das Healing-Classroom-Programm, die methodisch an digitale Formate angepasst und auf den aktuellen Bedarf abgestimmt werden können. Die Nachfrage ist enorm: Über 80 Prozent der von IRC Deutschland befragten pädagogischen Fachkräfte haben Interesse an solchen Online-Fortbildungen geäußert. Der Fokus liegt besonders darauf, wie sozial-emotionales Lernen auch aus der Ferne gefördert werden kann und wie Lehrkräfte mit Kindern und Jugendlichen virtuell in Kontakt bleiben können, auch wenn sie bisher nur wenig Deutsch sprechen. „Viele Schulen in Deutschland haben bisher wenig Erfahrung mit digitalen Lernformaten, daher versuchen wir auch da Hilfestellung zu leisten,“ erklärt Lisa Küchenhoff vom IRC-Bildungsteam.
Lehrkräfte berichten vor allem von fehlenden Computern und Internetzugängen sowie unzureichenden IT-Kenntnissen. „Vieles muss improvisiert werden,“ sagt ein Gymnasiallehrer aus Hamburg rückblickend auf die Erfahrungen der ersten Wochen „Home-Schooling“. Insgesamt, so wird von den in der IRC-Umfrage angesprochenen Lehrkräften gemeldet, hätten weniger als ein Drittel der geflüchteten Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, digital zu lernen. „Wenn es in einer Familie nur ein Smartphone für vier Geschwister gibt oder ein Schulkind auf seinen kleineren Bruder oder die Schwester aufpassen muss, während die Mutter im Supermarkt arbeitet, wie soll man sich dann in eine Videokonferenz für den Mathe-Unterricht einwählen? Oder wenn Schüler*innen in einer Gruppenunterkunft leben – wo können dort Arbeitsblätter gedruckt werden? Wo finden diese Kinder und Jugendliche einen ruhigen Ort zum Lernen?“ fragt Lisa Küchenhoff und ergänzt: „Da verschärfen sich gerade Ungerechtigkeiten, die wir ohnehin schon in unserem Bildungssystem haben.“
Die Motivation vieler Lehrkräfte ist jedoch groß. Auch das hat die Umfrage ergeben. Es gebe ein Recht auf Gleichbehandlung und das schließe auch das Recht auf gleiche Bildung mit ein, erklärt der Hamburger Lehrer: „Es sollte Aufgabe und Pflicht eines jeden Bürgers sein, Menschen in Not zu unterstützen.“ Und Lehrkräfte tun dies oftmals mit viel persönlichem Einsatz, weiß auch die Bremer Schulleiterin. So würden Kolleg*innen ihre Schüler*innen zum Beispiel auch über das Mobiltelefon der Eltern anrufen, um mit ihnen zu reden und ihnen Aufgaben im Detail zu besprechen.
Wie hilft IRC Lehrkräften in Deutschland während der Coronakrise?
Die aus der Healing-Classroom-Reihe bekannten Materialien, zum Beispiel der Newsletter mit aktuellen Infos, unterstützen die Pädagogen auch im Fernunterricht. Gerne leite er sie immer an andere Lehrer*innen weiter, erzählt der Hamburger Gymnasiallehrer. Vor allem freue er sich darüber, dass er die Anregungen auch für alle anderen seiner Schüler*innen nutzen könne, also auch die ohne Fluchthintergrund.
Doch es wird noch weitergedacht. So bereitet IRC Deutschland ein neues Programm vor: Huckepack. Damit wollen wir – abhängig von den aktuellen Entwicklungen rund um die COVID-19-Krise – in den Sommerferien Grundschüler*innen beim Übergang in die Sekundarschule unterstützen. Ein Übergang ist immer eine Herausforderung. Das gilt auch für die Einschulung. Im Projekt Vor-Sprung bringen wir darum Fachkräfte aus Kitas und Grundschulen zusammen, um den Wechsel für neuzugewanderte Kinder gemeinsam zu gestalten.
Wie kann ich IRC dabei unterstützen, Geflüchteten in Deutschland zur Seite zu stehen?
Wer ein internetfähiges Tablet oder einen Laptop übrig hat, könnte es an eine Flüchtlingsunterkunft oder Schule in der Nachbarschaft spenden. Wer befreundete Lehrkräfte kennt, könnte nachfragen, ob sie unterstützt werden möchten – zum Beispiel, um Bücher per Video vorzulesen, Arbeitsblätter mit dem Fahrrad auszutragen oder einem Kind ein Malbuch zu schicken.
Weitere Informationen gibt es in unserem Newsletter. Dort weisen wir auf alle unsere Angebote, Lernmaterialien und Webinare hin.