Eigentlich gönnt sich Alex keine Pausen. Sie arbeitet im IRC-Aufnahmezentrum in Phoenix, Arizona. Aber jetzt macht sie eine Ausnahme, um ihre Geschichte zu erzählen. Dabei hält sie sich den Bauch, legt die Stirn kurz auf den Tisch ab.
Ob sie sich krank fühle? „Nein, nein", erwidert sie. „Alles gut. Der Schmerz kommt und geht.“
Bei einem Familientreffen im Juli hatte Alex extrem starke Magenschmerzen. Sie dachte sich nichts dabei und ging nach Hause, um sich auszuruhen. Aber es ging ihr zunehmend schlechter. Sie hatte Zitteranfälle und begann, sich immer wieder zu übergeben. Alex wurde ins Krankenhaus gebracht, wo die Ärzte Verklebungen im Unterleib feststellten. Alex wurde sofort operiert.
„Meine Arbeit ist der Grund, warum ich morgens aufstehe“, sagt sie.
„Niemand wusste, ob ich überleben würde“, erinnert sich die junge Frau. „Irgendwann habe ich angefangen über mein Leben nachzudenken und ich habe mich gefragt, ob das alles ist, was ich erreichen will, ob das die Spuren sind, die ich auf dieser Welt hinterlassen möchte?“
Sie habe keine Angst vor dem Sterben, sagt Alex. Aber sie habe Angst, den asylsuchenden Familien nicht mehr helfen zu können. Alex ist Spezialistin für die Unterbringung von Schutzsuchenden. Sie erklärt den Geflüchteten, welche Leistungen ihnen IRC anbietet und hilft auch dabei, anstehende Termine mit Behörden vorzubereiten.
Glücklicherweise hat Alex die Operation gut überstanden. Jedoch leidet sie seit ihrer Geburt unter den Folgen des sogenannten Zwillings-Transfusions-Syndroms. Dies tritt auf, wenn sich eineiige Zwillinge eine Plazenta teilen und der eine an den anderen Blut verliert.
Die Krankheit endet oft tödlich. Alex hat überlebt, wenn auch mit großen Beeinträchtigungen: Als sie neun war, wurde bei ihr Leukämie festgestellt. Bis heute leidet sie unter ständigen Schmerzen und Schwächeanfällen und ist häufig müde. Aber mit der Arbeit aufzuhören kommt für sie nicht in Frage.
„Ich schöpfe meine Kraft aus dem, was die Familien durchgemacht haben“, sagt sie. „Es fällt mir schwer, im Bett zu bleiben und nichts zu tun. Ich glaube, geflüchtete Familien leiden viel mehr als ich.
Meine Probleme können manchmal mit Medikamenten gelöst werden, bei ihren Probleme geht das nicht.
„Es sind Väter, Mütter und Kinder...“
Es ist 10 Uhr morgens. Alex begrüßt zwei Familien im IRC-Aufnahmezentrum. Die Einrichtung befindet sich in einer ehemaligen Grundschule. IRC hilft dort Menschen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko auf der Suche nach Schutz überquert haben. Sie bekommen Nahrung, Wasser und Kleidung, eine Übernachtungsmöglichkeit sowie medizinische Hilfe und eine Rechtsberatung.
„Ich erkläre euch, was hier passieren wird“, sagt Alex den Neuankömmlingen auf Spanisch. „Ihr seid in Phoenix, Arizona. Ihr werdet hier nicht inhaftiert. Wir gehören nicht zur Einwanderungsbehörde. Wir sind das International Rescue Committee.“
Dann spricht sie mit Marta und Julio*, einem Paar aus dem Süden Mexikos. Sie sind mit ihren drei kleinen Kindern vor gewalttätigen Banden geflohen sind. Alex notiert sich ihre Daten, damit sie ihnen helfen kann, eine Patenfamilie in den USA zu finden. Sie erklärt ihnen, was die Familie während ihres Aufenthalts im Zentrum erhält und stellt sicher, dass sich Marta und Julio die Termine für ihre Asylanhörung aufschreiben. Langsam beginnt sich die Familie zu entspannen.
Bevor Alex zu IRC kam, arbeitete sie als Monteurin in einer Autowerkstatt in Arizona. Als Amerikanerin mit mexikanischer Herkunft bedrückten sie die zahlreichen Berichte, über die Not von Asylsuchenden und die mangelnde Hilfe der Einwanderungsbehörden.
„Ich konnte es nicht fassen, wie mit diesen Familien, die lediglich Schutz und Sicherheit suchten, umgegangen wurde,“, sagt Alex. „Das sind Väter, Mütter und Kinder. Ihr Leid kann man nicht mit Geld aufwiegen.“
Alex tut alles dafür, damit sich die Situation der Geflüchteten verbessert. Für Marta und Julio hat sie einen Angehörigen gefunden. Nun erklärt sie der Familie, dass sie Busfahrkarten bekommen, um in ihr vorübergehendes Zuhause fahren zu können. Alex seufzt erleichtert. Die Familien wünschen sich nichts anderes, als vereint zu sein.
„Ich schöpfe meine Kraft aus dem, was die Familien durchgemacht haben. Es fällt mir schwer, im Bett zu bleiben und nichts zu tun. Ich glaube, geflüchtete Familien leiden viel mehr als ich.“
Anschließend begleitet Alex die Familie zu einer medizinischen Untersuchung und bringt sie dann in den „Ropa“-Raum, den sie als einen ungezwungenen und magischen Ort beschreibt. „Ropa“ bedeutet Spanisch für Kleidung. Der Raum ist voller Shirts und Hosen, Schuhe, Mäntel, Unterwäsche, Toilettenartikel und Babysachen. Alex erklärt Marta, dass sie sich und ihre Familie ausstatten kann - kostenlos. Marta bricht in Tränen aus.
„Nein, mach dir keine Sorgen“, sagt ihr Alex auf Spanisch. „Wir sind hier, um zu helfen. Es kommt von Herzen. Nimm dir was zum Anziehen und mach dich hübsch!“
Später erklärt Alex: „Es ist manchmal überwältigend. Familien, die nach Amerika kommen, haben Angst. Aber gleichzeitig fühlen sie sich frei. Wir wollen sie daran erinnern, dass sie stark sind und Würde haben.“
„Was sie mir geben, ist mehr als das, was ich bieten kann.“
Wann immer sie kann, versucht Alex sich Zeit zu nehmen, um mit den Familien zu reden und sich mit ihnen zu beschäftigen. „Viele dieser Familien, besonders die Mütter, haben niemandem erzählt, wie sie sich wirklich fühlen. Unsere Gespräche sind wie eine Therapie für sie. Alle Emotionen, der Frust, die Traurigkeit, ihre Wut und ihre Ängste kommen dann zum Vorschein.“
Alex beginnt ein Gespräch mit Alejandra, die Mexiko verlassen hat, um in den USA Asyl zu beantragen. Sie hofft, dass sie dort mit ihrer 5-jährigen Tochter Ana in Sicherheit leben kann.
„Das war der einzige Weg, um meine Tochter zu beschützen“, sagt Alejandra. Es fällt ihr schwer, ihre Geschichte zu erzählen, ohne dabei zu weinen. Im IRC-Zentrum hat Alejandra Trost gefunden: „Zum ersten Mal sehe ich Ana wieder glücklich. Sie ist gut drauf und ihr geht es nun deutlich besser.“
„Meistens ist mein Job der einzige Grund, warum ich morgens aufstehe“, sagt Alex. „Ich schöpfe meine Kraft aus dem, was diese Familien durchgemacht haben. Was sie uns geben, ist viel mehr als das, was wir ihnen bieten können.“
Alex hat große Angst um ihre Gesundheit.
„Ich werde nicht ewig leben,“ sagt sie, „aber unsere Unterstützung für diese Menschen hoffentlich schon."
*Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen und zum Schutz der Privatsphäre geändert.
In Phoenix, Arizona, stellen IRC und unsere lokalen Partner Nahrungsmittel, Wasser, medizinische Grundversorgung, Rechtsberatung, Kleidung und Übernachtungsmöglichkeiten für Menschen zur Verfügung, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko auf der Suche nach Schutz überquert haben. Seit der Eröffnung im letzten Sommer hat das IRC-Zentrum mehr als 600 Asylsuchenden geholfen.