Kabul, Afghanistan, 8. August 2023 — Zwei Jahre nach dem Machtwechsel in Afghanistan ist der Bedarf an humanitärer Hilfe im ganzen Land in die Höhe geschnellt. International Rescue Committee (IRC) warnt, dass die Mittelkürzungen der humanitären Hilfe für Afghanistan, neben dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, dem Klimawandel und der eingeschränkten Grundversorgung dazu beigetragen haben, dass die Zahl der gefährdeten Menschen um 60 Prozent gestiegen ist.
Dieses Jahr sind nur 23 Prozent der erforderlichen Mittel für den humanitären Hilfsplan gesichert. Im Vorjahr waren es immerhin 40 Prozent. Diese Kürzungen haben dazu beigetragen, dass von Januar bis April zwei Millionen Menschen weniger erreicht werden konnten als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Trotz vieler Hindernisse konnte die humanitären Hilfe in den letzten beiden Wintern eine Hungersnot abwenden – dank des beständigen Engagements der Geberregierungen, die afghanische Zivilbevölkerung weiterhin zu unterstützen. Durch die erhebliche Ausweitung der humanitären Hilfe konnte die Zahl der von Hungersnot bedrohten Menschen allein in diesem Jahr um fast 3 Millionen gesenkt werden – ein bemerkenswerter Einsatz, der vor allem Kleinkindern zugute kam, die während Ernährungskrisen besonders gefährdet sind.
Salma Ben Aissa, IRC-Landesdirektorin für Afghanistan, sagt:
„Seit dem 15. August 2021 leidet Afghanistan noch immer unter dem rapiden wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Zivilbevölkerung Afghanistans zahlt den Preis: Menschen, die früher Arbeit hatten und sich selbst versorgen konnten, sind jetzt auf humanitäre Hilfe angewiesen und viele Familien können sich nicht mehr selbst ernähren. Zwei Jahre später ist die Wirtschaft immer noch von internationalen Systemen abgeschnitten und 28,8 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe. Beinahe die gesamte Bevölkerung lebt in Armut und fast 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen und Mädchen.
Die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Ausweitung und Unterstützung der humanitären Hilfe, unter anderem durch umfangreiche Sanktionsausnahmen, haben unzählige Menschenleben gerettet. In diesem Jahr konnten die humanitären Organisationen trotz großer Herausforderungen ihre Aktivitäten aufrechterhalten und ausweiten, um über 17 Millionen Afghan*innen lebenswichtige Hilfe zu ermöglichen. Dank des unermüdlichen Engagements der afghanischen Helfer*innen, konnten Hilfsorganisationen wie IRC Familien in abgelegenen Gemeinden Nothilfe leisten, die während des anhaltenden Konflikts, vor August 2021, keine Unterstützung erhalten hatten.
Trotz vieler erfolgreich umgesetzter Maßnahmen macht sich IRC große Sorgen um die Zukunft der humanitären Hilfe in Afghanistan angesichts der anhaltenden Finanzierungsengpässe, die Millionen von Menschenleben gefährden. So mussten beispielsweise die Lebensmittelrationen und Bargeldhilfen des Welternährungsprogramms der UN (World Food Programme) für 8 Millionen Afghan*innen in diesem Jahr gekürzt werden. Ohne die dringend benötigte Finanzierung könnte es sein, dass bis Oktober dieses Jahres gar keine Mittel mehr für die Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung stehen. Darüber hinaus haben die Mittelkürzungen in diesem Jahr dazu geführt, dass die medizinische Grundversorgung, einschließlich der mobilen Gesundheitsteams, nicht länger gewährleistet werden konnte, sodass Hunderttausende Afghan*innen keine Gesundheits- und Ernährungshilfe mehr erhalten haben. Dies betraf besonders Mädchen und Frauen.
Dies ist ein entscheidender Moment für Afghanistan. Die Geberregierungen sollten sich verpflichten, die humanitäre Hilfe langfristig und bedarfsgerecht zu unterstützen, um sicherzustellen, dass die Hilfe weiterhin diejenigen erreicht, die sie am dringendsten benötigen, und Afghan*innen so dabei zu helfen, sich selbst zu versorgen. Ohne diese Finanzierung werden Millionen von Menschen weiterhin von Hunger bedroht und mit einer unsicheren Zukunft konfrontiert sein.“
Corina Pfitzner, Leitung IRC Deutschland, kommentiert:
,,Zwei Jahre nach dem Machtwechsel sind die humanitären Bedarfe der afghanischen Zivilbevölkerung auf einem Höchststand. Auf den Menschen lasten die Folgen einer kollabierenden Wirtschaft, die Auswirkungen des Klimawandels sowie der jahrzehntelange Konflikt.
Umso wichtiger ist es, dass Hilfsorganisationen wie IRC in den letzten zwei Jahren trotz der prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen und vielerlei Rückschläge, einschließlich der Hindernisse für Frauen, für humanitäre Hilfsorganisationen zu arbeiten, lebenswichtige Hilfe geleistet haben. Es ist entscheidend, dass diese Unterstützung auch in Zukunft weiterhin gewährt werden kann.
Die deutsche Regierung hat sich zum Ende des Bundeswehreinsatzes ihrer besonderen Verantwortung für die Menschen Afghanistans bekannt und ist dieser Verantwortung zunächst als eine der größten Geberregierungen und Aufnahmeland für gefährdete Afghan*innen nachgekommen. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verhindern. Es ist daher entscheidend, dass die Bundesregierung über das Auswärtige Amt und das Bundesentwicklungsministerium weiterhin ausreichende Mittel für die Bewältigung der humanitären Krise und die Deckung der Grundbedürfnisse bereitstellt – aktuelle Diskussionen über Mittelkürzungen auch für Afghanistan gehen in eine falsche Richtung und drohen die Unterstützung vieler Afghan*innen zu beenden.
Im Sinne einer feministischen Außen- und Entwicklungspolitik müssen insbesondere Wege gefunden werden, um lokale und von Frauen geführte Organisationen zu unterstützen. Diese Organisationen, obwohl sie weiterhin in Afghanistan arbeiten, haben kaum Zugang zu internationalen Geldern. Sie sind aber in ihren Gemeinschaften verwurzelt und können so sicherstellen, dass auch Frauen und Kindern weiterhin internationale Hilfe erhalten.
Humanitäre Hilfe kann die Krise in Afghanistan, die ihre Ursachen in politischen und wirtschaftlichen Faktoren hat, nicht alleine bewältigen. Nur über langfristige Projekte, die Grundbedürfnisse der Zivilbevölkerung decken, erhalten Menschen vor Ort die Möglichkeit, ihre Grundbedürfnisse und ihren Lebensunterhalt in der Zukunft selbst zu sichern.”
IRC in Afghanistan
Das Programm in Afghanistan wurde im Jahr 1988 ins Leben gerufen und ist damit eins der ersten von International Rescue Committee. Im Laufe der Jahre hat sich unsere Unterstützung als entscheidend für die Sicherheit, die Bildung und das Wohlergehen von Millionen Afghan*innen erwiesen. IRC arbeitet mittlerweile mit Tausenden von Dörfern in insgesamt zwölf Provinzen zusammen. Fast 5.000 Mitarbeitende und Freiwillige von IRC, von denen 99 Prozent Afghan*innen und über 40 Prozent Frauen sind, arbeiten eng mit den Gemeinden vor Ort zusammen. Gemeinsam entwickeln, planen und verwalten sie Entwicklungsprojekte, schaffen sichere Lernorte in ländlichen Gebieten für gemeindebasierte Bildung, stellen Bargeldhilfen bereit, versorgen Familien mit Zelten, sauberem Wasser, sanitären Anlagen und anderer Grundversorgung, helfen Menschen bei der Erhaltung ihres Lebensunterhalts und entwickeln ein umfassendes Resilienzprogramm.