Berlin, 11. Dezember 2024 — Heute veröffentlicht International Rescue Committee (IRC) die jährliche Emergency Watchlist mit den 20 Ländern, in denen sich die humanitäre Lage im Jahr 2025 voraussichtlich am stärksten verschlimmern wird. Die fünf größten Krisen sind Sudan, das besetzte palästinensische Gebiet, Myanmar, Syrien und Südsudan.
Weltweit sind 305 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. 82 Prozent dieser Menschen leben in Watchlist-Ländern, obwohl sie nur elf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. 77 Prozent der Vertriebenen weltweit sind auf Krisen in Staaten auf der Watchlist zurückzuführen. Über 30 Prozent der extrem Armen weltweit leben in Watchlist-Ländern.
Die diesjährige Emergency Watchlist nennt vier tiefgreifende Ungleichgewichte im internationalen System, die Krisen verstärken:
- Mehr Konflikte, weniger Diplomatie: Im Jahr 2023 gab es 59 Konflikte, die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.
- Mehr Angriffe auf Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur: Die Anzahl der Angriffe auf Zivilist*innen durch staatliche und nichtstaatliche bewaffnete Gruppen weltweit ist im Zeitraum 2013 bis 2023 um 66 Prozent gestiegen. 74 Prozent dieser Angriffe erfolgten in den Watchlist-Ländern.
- Mehr Kohlenstoffemissionen, weniger Unterstützung für Menschen im Epizentrum der Klimakrise: Watchlist-Länder tragen weniger als vier Prozent zu den globalen CO2-Emissionen bei. Über ein Drittel aller Menschen, die in den letzten fünf Jahren durch Naturkatastrophen ihr Zuhause verloren oder vertrieben wurden, leben in Ländern der Watchlist.
- Mehr Vermögensbildung, weniger Armutsbekämpfung: Im Durchschnitt ist die Armutsquote in den Watchlist-Ländern heute um fast 85 Prozent höher als Mitte der 2000er Jahre. Im Rest der Welt ist die Armut im gleichen Zeitraum um 37 Prozent gesunken.
IRC schlägt Maßnahmen in sechs Bereichen vor:
- Ausgaben für humanitäre Hilfe müssen erhöht werden, um den wachsenden globalen Bedürfnissen gerecht zu werden.
- Stark verschuldete Länder müssen entlastet, Entwicklungsfinanzierung ausgebaut und wirtschaftliche Stabilität gefördert werden, um die Ursachen von Krisen anzugehen und gemeinsamen Wohlstand zu schaffen.
- Der UN-Sicherheitsrat muss reformiert werden, um die Zivilbevölkerung besser zu schützen, die Mitbestimmung verschiedener Länder und Regionen zu stärken und den Missbrauch von Vetorechten einzuschränken.
- Der Zugang zu humanitärer Hilfe muss gewährleistet sein, damit die Betroffenen sicher erreicht werden.
- Investitionen in Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und Resilienz müssen gestärkt werden, um die Folgen von Klima-Schocks zu mindern.
- Sichere Fluchtwege sowie die Unterstützung für Geflüchtete müssen ausgeweitet werden, um Schutz und Teilhabe zu stärken.
Corina Pfitzner, Geschäftsführerin IRC Deutschland, kommentiert: „Heute sind 305 Millionen Menschen von Vertreibung, Hunger und Konflikten betroffen – mehr als je zuvor. Die Watchlist dokumentiert traurige Negativrekorde: Sudan ist die weltweit größte humanitäre Krise. Die Menschen in Gaza leben seit über einem Jahr in einem nicht enden wollenden Alptraum aus Krieg und Hunger. Südsudan steht mit mehr als 800.000 Geflüchteten aus Sudan und einer Wirtschaftskrise kurz vor dem Kollaps. Völlig ungewiss ist die Zukunft Syriens und wie sich die Lage im Land nach 14 Jahren Konflikt weiterentwickeln wird.
Die Watchlist ist ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft und liefert Orientierung für das globale Engagement in den schlimmsten humanitären Krisen der Welt. Auch für Deutschland kann die Watchlist ein Gradmesser sein. Neben der Zusicherung ausreichender Finanzierung sollte die Bundesregierung ihre diplomatischen Muskeln nutzen, um Völkerrecht und Rechenschaftspflicht einzufordern.
In Anbetracht der aktuellen innenpolitischen Lage steht Deutschland am Scheideweg: Zukünftig von der Seitenlinie zuschauen oder durch entschlossenen Einsatz mit humanitärer Hilfe und Diplomatie effektiv dazu beitragen, globale Ungleichgewichte aufzulösen. Eine politische Entscheidung in Berlin kann für Menschen in humanitären Notlagen Leben und Tod bedeuten. In Anbetracht wachsender Not und aufflammender Krisen sollte Deutschland engagiert und solidarisch Verantwortung übernehmen.”
David Miliband, Präsident und CEO von IRC, ergänzt: „Die Welt steht in Flammen – und für Hunderte Millionen von Menschen ist dies tägliche Realität. Als Hilfsorganisation hat IRC die Aufgabe, nicht nur humanitäre Bedarfe zu decken, sondern auch auf sie hinzuweisen. Dies ist der Zweck der heute veröffentlichten IRC Emergency Watchlist.
Die Ballung extremer Armut ist bemerkenswert. Die Welt spaltet sich in zwei Lager: Menschen werden in fragile Konfliktländer geboren, oder aber haben in stabilen Staaten Chancen. Dieser Trend muss aus moralischen und strategischen Gründen gebrochen werden. Aus moralischer Sicht müssen mehr Ressourcen als je zuvor eingesetzt werden, um den Schwächsten der Welt zu helfen. Aus strategischen Gründen gilt zu bedenken, dass Probleme zwar in Sudan oder Syrien beginnen, aber dort nicht bleiben: Instabilität breitet sich aus.
Business-as-usual wird die Spaltung der Welt nicht umkehren. Die Zivilbevölkerung wird weiterhin unter aufflammenden Konflikten leiden und extreme Gefahren auf sich nehmen, wenn wir den Status quo nicht brechen. Die internationale Gemeinschaft hat sowohl die Chance als auch die Verantwortung, die Bedingungen für humanitäres und diplomatisches Engagement in Ländern auf der Watchlist zu ändern. Auch wenn die Herausforderungen in diesen Ländern komplex sind, weiß IRC aus erster Hand, dass die Widerstandsfähigkeit der betroffenen Menschen gestärkt und ihre Lebensgrundlagen erhalten werden können.“