Berlin, 18. März 2020 — Vier Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens zwischen der EU und der Türkei ist vor allem eins offensichtlich geworden: die Migrationspolitik Europas ist nicht nur kurzsichtig, sie bringt die EU auch in Abhängigkeit von Drittstaaten.
Nach der Entscheidung der Türkei, ihre Grenzen Anfang März zu öffnen, haben die Mitarbeiter*innen von International Rescue Committee miterlebt, wie eine ohnehin schon ernste humanitäre Situation weiter eskaliert. Tausende Menschen kamen an die Landgrenzen Griechenlands oder setzten auf die Inseln der Ägäis über. Damit hat sich nicht nur die Lage der Schutzsuchenden dramatisch verschärft, auch die Spannungen mit lokalen griechischen Gemeinschaften haben zugenommen. Dies führte unter anderem zu gewalttätigen Angriffen auf Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen wie auch Asylsuchende selbst.
Dies ist auch eine Folge des EU-Türkei-Abkommens. Die darin eingeführten Beschränkungen haben zu einer Überbelegung vorhandener Aufnahmelager geführt: Der Zugang zu sanitären Einrichtungen und einer angemessenen Gesundheitsversorgung ist begrenzt. Tausende Menschen sind gezwungen, in Zelten zu leben – ohne Strom, umgeben von Müll. Die erschreckenden Statistiken aus Programmen von International Rescue Committee zur psychischen Gesundheit von Geflüchteten auf den griechischen Inseln erzählen eine eigene Geschichte: 43% unserer Klient*innen haben schon über Selbstmord nachgedacht – obwohl sie an ihrem Ziel angekommen sind – einem Ort, an dem sie sicher sind.
Imogen Sudbery, IRC Director of Policy and Advocacy, sagte:
„Um die humanitäre Krise in Griechenland zu bewältigen, müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs die am meisten gefährdeten Menschen, die derzeit auf den Inseln festsitzen, unverzüglich umsiedeln. Wir begrüßen die jüngste Entscheidung von mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten, 1.600 unbegleitete Minderjährige zu evakuieren. Doch der Bedarf ist viel größer: Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke, ältere Menschen und Familien mit Kindern stehen immer noch vor einer ungewissen Zukunft. Die Umsiedlung besonders schutzbedürftiger Personen ist angesichts der Ausbreitung des Coronavirus sogar noch dringlicher geworden, um die Gesundheit und das Leben dieser Menschen zu schützen.
Die Aussetzung der Asylverfahren, die brutale Zurückdrängung an den Grenzen sowie die mögliche Zwangsrückführung von Geflüchteten verstoßen zudem gegen internationales und EU-Recht.
International Rescue Committee fordert, die Bearbeitung von Asylanträgen sofort wieder aufzunehmen. Die EU soll die griechische Regierung dabei durch die Entsendung ausgebildeter Fachleute unterstützen. Die EU soll auch sicherstellen, dass die notwendigen Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie im Einklang mit den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation getroffen werden.
Im neuen Pakt über Migration und Asyl muss die EU eine nachhaltige und humane Alternative zum Abkommen zwischen der EU und der Türkei anbieten. Menschen nicht Grenzen sollen im Mittelpunkt der Politik stehen.
Dafür muss ein faires System erarbeitet werden, in dem die Verantwortung für die Bearbeitung von Asylanträgen klar und überschaubar aufgeteilt wird. Zudem kann die Europäische Union bis 2025 mindestens 250.000 Asylsuchende aufnehmen. Dafür soll ein Rahmenabkommen ausgehandelt werden.
Strengere Grenzkontrollen werden Menschen nicht davon abhalten, in Europa Sicherheit zu suchen. Wie wir in Griechenland sehen, sorgt eine restriktive Politik, die keinen Raum für legale Migration zulässt, für nichts anderes als menschliches Leid.
International Rescue Committe in Griechenland
International Rescue Committe arbeitet seit Juni 2015 in Griechenland. Erste Programme wurden auf Lesbos in Zusammenarbeit mit Geflüchteten, der lokalen Bevölkerung und den örtlichen sowie nationalen Behörden gestartet. Seitdem hat International Rescue Committe seine Arbeit ausgeweitet und unterstützt Schutzsuchende auch auf dem griechischen Festland. Wir bieten Hilfe in den Bereichen psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung an, stellen Unterkünfte und sanitäre Einrichtungen bereit und unterhalten Schutzzentren für unbegleitete Kinder und Frauen.