Nach elf Jahren Konflikt erreichen die humanitären Bedürfnisse der Syrer*innen weiterhin Rekordhöhen. Zu den Auswirkungen von COVID-19, einer verheerenden Dürre und einer kollabierenden Wirtschaft, die Millionen gefährdeter Syrer*innen um ihr Überleben kämpfen lässt, kommen noch die Folgen von über einem Jahrzehnt Konflikt und Vertreibung hinzu. Gleichzeitig droht die jüngste Invasion in der Ukraine verheerende Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise zu haben, in einer Zeit, in der die Familien bereits mit Ernährungsprobleme kämpfen.

In dem vom Krieg zerrütteten Land sind mehr als 60% der Bevölkerung - 12 Millionen Menschen - von Hunger betroffen. Die durchschnittlichen Lebensmittelpreise sind höher als je zuvor in den letzten neun Jahren. Die Preise für Grundnahrungsmittel, Wasser und Transportmittel sind gestiegen und gleichzeitig ist der Wert des syrischen Pfunds und der türkischen Lira (die im Nordwesten Syriens häufig verwendet wird) erheblich gesunken. Nach Angaben von OCHA übersteigen die durchschnittlichen Ausgaben der Haushalte in Syrien das verfügbare Einkommen um bis zu 50%. Ohne angemessenen Zugang zu Lebensmitteln oder humanitärer Hilfe greifen viele Syrer*innen nun zu extremen Mitteln, um zu überleben.

Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien, sagt:

"Unsere Teams und Partnerorganisationen in Syrien erleben nach wie vor die verheerenden Auswirkungen auf Familien, die nun schon mehr als elf Jahre Konflikt und Krise hinter sich haben. Viele berichten uns, dass sie jetzt am Ende ihrer Kräfte sind. In einer kürzlich im Nordwesten Syriens durchgeführten IRC-Umfrage gaben 46% der Befragten an, dass es inzwischen üblich ist, dass Kinder die Schule abbrechen, um zu arbeiten und ihre Familien zu versorgen. Besonders verzweifelt ist die Lage für Frauen und Mädchen: Jeder vierte Befragte gab an, dass es für Gemeindemitglieder*innen üblich ist, Minderjährige zu verheiraten im Versuch die Herausforderungen für die weiteren Familienmitglieder besser bewältigen zu können. IRC und unsere Partnerorganisationen arbeiten unermüdlich daran, schutzbedürftige Frauen und Mädchen in Syrien zu unterstützen. Aber der Bedarf übersteigt die verfügbaren Dienste , und wir machen uns zunehmend Sorgen um diejenigen, die durch die Maschen fallen."

Im Jahr 2021 herrschte in Syrien die schlimmste Dürre seit mehr als 70 Jahren. Sie beeinträchtigte den Zugang zu Trinkwasser, Strom und Bewässerungswasser für Millionen von Menschen. Die Wasserkrise dezimierte die Weizenernte des Landes: Die Produktion sank von 2,8 Millionen Tonnen im Jahr 2020 auf nur 1,05 Millionen Tonnen im Jahr 2021. Infolgedessen sind die Weizenpreise auf ein Rekordhoch gestiegen, was die schon angespannten Haushaltsbudgets weiter belastet. Schon vor der Dürre war Syrien zunehmend auf Importe angewiesen, um die Versorgung des Landes mit Weizen zu gewährleisten. Da der größte Teil der Weizenimporte aus Russland stammt, werden die Auswirkungen der Invasion in der Ukraine wahrscheinlich weitreichende und möglicherweise verheerende Folgen für die Ernährungssicherheit in Syrien im Jahr 2022 und darüber hinaus haben.

David Miliband, Präsident und CEO von International Rescue Committee, sagt:

"Elf Jahre nach Beginn des Syrienkonflikts befinden sich die Syrer*innen innerhalb und außerhalb des Landes mitten in einer katastrophalen Mischung aus Gewalt, Hunger, Armut und Isolation, die sich in diesem Jahr nur noch verschlimmern dürfte. Die Ukraine beherrscht zu Recht die weltweiten Schlagzeilen. Aber wir sollten auch nicht die Orte vergessen, an denen die Gesetze des Krieges und der Rechenschaftspflicht seit Jahren missachtet werden. Syrien ist ein Paradebeispiel dafür, dass Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zur Norm geworden sind. Jetzt ist nicht die Zeit, den Menschen in Syrien den Rücken zu kehren.

Für die im Norden des Landes auf humanitäre Hilfe Angewiesenen, ist das drohende Ende der grenzüberschreitenden Hilfsleistungen der letzte in einer langen Reihe von Fällen, in denen die internationale Gemeinschaft versagt hat, Zivilist*innen zu schützen und ihnen zu helfen. Die Täter*innen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, dürfen nicht zum Spielball der Weltpolitik werden.

Nach ein weiteres Jahr des Konflikts und der Verschärfung der Krise in Syrien, ruft IRC die internationale Gemeinschaft dazu auf:

IRC in Syrien

IRC ist seit 2012 in Syrien tätig und kümmert sich um die Bedürfnisse im Nordwesten und Nordosten des Landes. IRC fördert wirtschaftliche Aktivitäten durch Berufsausbildung, Lehrstellen und Unterstützung von Kleinunternehmen. IRC-Teams unterstützen die frühkindliche Entwicklung und bieten Beratungs- und Schutzdienste für Frauen und Kinder an, insbesondere für Überlebende von Gewalt. Wir unterstützen Gesundheitseinrichtungen und mobile Gesundheitsteams bei der lebensrettenden Traumabehandlung sowie bei der primären, reproduktiven und psychischen Gesundheitspflege. Unsere COVID-19-Maßnahmen umfassen die Förderung von Sensibilisierungskampagnen und die Schulung von Gesundheitsfachkräften in der Infektionsprävention und -kontrolle. IRC unterstützt auch syrische Geflüchtete in Jordanien, Irak und Libanon. 

Grenzüberschreitend

Im Jahr 2021 waren 6,8 Millionen Menschen in den nicht von der Regierung kontrollierten Teilen des Nordwestens und 2,6 Millionen im Nordosten auf Hilfe angewiesen (OCHA). Die Autorisierung für den letzten Übergang für grenzüberschreitende Hilfe läuft im Juli 2022 aus, und es gibt derzeit keine praktikablen Alternativen. Ohne grenzüberschreitende UN-Maßnahmen wird es für die humanitären Akteure nahezu unmöglich sein, den steigenden Bedarf im Jahr 2022 zu decken, ganz zu schweigen von der Deckung zu erwartender zusätzlicher Bedarfe. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass der UN-Sicherheitsrat den grenzüberschreitenden Mechanismus für weitere zwölf Monate genehmigt, wenn Resolution 2585 im Juli 2022 ausläuft.

Hinweise an die Reaktion: 
Umfrageergebnisse zu Syrien