Brüssel, 16. Februar 2022 — Angesichts des steigenden Bedarfs an humanitärer Hilfe in der Sahelzone ruft International Rescue Committee (IRC) die Europäische Union (EU) und Afrikanische Union (AU) zum EU-Afrika-Gipfeltreffen am 17. und 18. Februar dazu auf, ihre Partnerschaft neu auszurichten. Themen wie Völkerrecht, Ernährungsunsicherheit und der Schutz von Menschen, die von Konflikten und humanitären Krisen betroffen oder auf der Flucht sind, müssen im Fokus stehen.
Im vergangenen Jahr erreichte die Unsicherheit in der zentralen Sahelzone - Burkina Faso, Mali und Niger - einen alarmierenden Höchststand, während die humanitäre Lage und die Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung einen neuen Tiefpunkt erreichten. Die EU hat ihre Aktivitäten in dieser Region zu oft unter dem Gesichtspunkt der militärischen oder migrationspolitischen Abschreckung betrachtet. Infolge überwiegt ein Fokus auf Sicherheit und Stabilisierung. Daten zeigen jedoch, dass die Lage für die Zivilbevölkerung nicht sicherer, sondern gefährlicher wird.
- Seit 2017 ist die Zahl der gewaltsamen Angriffe auf unbewaffnete Zivilist*innen in der zentralen Sahelzone um 620% gestiegen. Das schließt auch Erschießungen, Entführungen und Berichte über sexualisierte Gewalt ein. Die Zahl der Todesopfer in den letzten fünf Jahre ist um 476% auf mehr als 1.800 gestiegen ist. Frauen und Mädchen sind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt in Mali stiegen allein im Jahr 2021 um 40%.
- Der Anstieg der Gewalt in Verbindung mit Klimawandel und COVID-19 führt mehr als acht Millionen Menschen in ernste Ernährungsunsicherheit. Die Temperaturen in der Region steigen 1,5 Mal schneller als im weltweiten Durchschnitt, und der Zugang zu grundlegenden sozialen Diensten - einschließlich Nahrungsmitteln - wird jeden Tag schwieriger. Dies trägt zu einem Rekordmaß an Vertreibung in der Region bei. Die Zahl der Binnenvertriebenen verzehnfachte sich seit 2013 auf mehr als 2,2 Millionen.
- Während die Mehrheit der Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant*innen innerhalb der Sahelzone Schutz suchen, sind einige gezwungen, sich auf immer gefährlichere Reisen zu begeben. Mindestens 1.553 Menschen starben im Jahr 2021 bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, oder gelten als vermisst.
- Die Folgen der COVID-19-Pandemie und die ungleiche Verteilung von Impfstoffen zerstören weiterhin Leben und Lebensgrundlagen in ganz Afrika. Stand Januar 2022 sind nur 11% der afrikanischen Bevölkerung vollständig geimpft, während es in der EU 70% sind.
IRC fordert die EU und die AU zu diesem Gipfeltreffen auf, ihre Partnerschaft neu auszurichten. Im Fokus soll der Schutz der Menschen und ihrer Lebensgrundlagen im Sinne der der UN-Nachhaltigkeitsziele stehen. Ein Wandel ist in drei Bereichen erforderlich:
- IRC fordert die Regierungen auf, Führungsstärke zu zeigenund konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um den steigenden humanitären Bedarf in der Sahelzone zu decken. Das Heißt, die Mittel für humanitäre Hilfe im Kontext der aktuellen Hungerkrise müssen weiter aufgestockt werden müssen. Die EU muss Zugangshindernisse für humanitäre Akteure beseitigen und sicherstellen, dass alle Partnerschaften - auch wenn sie der Sicherheit dienen - unter Einhaltung des humanitären Völkerrechts durchgeführt werden.
- Eine Abkehr von dem derzeitig starken Fokus auf die Abschreckung und Verhinderung der Einreise von Geflüchteten und Migrant*innen nach Europa ist notwendig. Es braucht eine Neuausrichtung des politischen Verständnisses von Flucht und Migration, in dessen Mittelpunkt der Schutz von Menschen und ihren Rechten steht. Dieser Gipfel bietet die Gelegenheit, sichere und legale Zugangswege auszubauen, afrikanische Länder bei der Ausweitung von Programmen für Rückkehrer*innen zu unterstützen, humanitäre Aufnahmeprogramme in die EU zu steigern und so das positive Potenzial von Migration zu nutzen.
- EU und AU müssen eine gemeinsame Reaktion auf die COVID-19-Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen entwickeln. Die Ungleichheit bei der Verteilung von Impfstoffen zu beenden und die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen zu fördern ist entscheidend, um die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bewältigen. Dies würde auch sinnvolle Fortschritte bei der Verwirklichung der UN-Nachhaltigkeitsziele schaffen. Dazu gehört auch die Verteilung lebensrettender Impfstoffe durch COVAX, der Verzicht auf geistige Eigentumsrechte an Impfstoffen und die Einbeziehung von Geflüchteten und Migrant*innen in nationale Wiederaufbaupläne.
Harlem Désir, IRC Vizepräsident Europa und Geschäftsführer IRC Deutschland, sagt:
"Beim EU-Afrika-Gipfel müssen die sich rasch ausbreitende Schutzkrise und Ernährungsunsicherheit in der zentralen Sahelzone ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Wir sind sehr besorgt über die steigende Zahl gewaltsamer Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Die EU sollte ihr ganzes diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen, um die Grundrechte und das humanitäre Völkerrecht zu wahren, insbesondere in Ländern wie Niger und Mali, die mit komplexen und langwierigen Krisen konfrontiert sind.
Wir fordern die EU und die AU zum Gipfeltreffen auf, ihre Partnerschaft und ihre Prioritäten neu auszurichten. Der Schutz der Zivilbevölkerung, der Schutz des Völkerrechts, Ernährungsunsicherheit und der Zugang zu Impfstoffen müssen im Mittelpunkt stehen. Da die Pandemie die hart erkämpften Fortschritte bei den UN-Nachhaltigkeitszielen untergräbt ist es umso wichtiger, dass EU und AU diese wichtige Arbeit wieder aufnehmen. Das Spitzentreffen bietet die Gelegenheit, sich auf einen transformativen Ansatz zu konzentrieren, der Frieden und Sicherheit fördert, Fortschritte für eine humane und nachhaltige Partnerschaft in Migrationsfragen erzielt und einer inklusive Bewältigung der COVID-19-Pandemie Vorrang einräumt.”
Für Statements und Interviews mit IRC Vizepräsident Europa und Geschäftsführer IRC Deutschland Harlem Désir, (auf Französisch sowie auf Englisch) wenden Sie sich bitte an [email protected].