Berlin, 15. Februar 2022 — Sechs Monate nach der Machtübernahme der Taliban steht Afghanistan vor dem Kollaps und gilt laut IRC Emergency Watchlist 2022 als schlimmste humanitäre Krise der Welt:
- In wenigen Monaten könnten 38 Millionen Afghan*innen – und damit 97 Prozent der Bevölkerung – unter der internationalen Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag leben.
- Afghanistan erfährt die schlimmste Dürre seit 27 Jahren. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (23 Mio. Menschen) sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Neun Millionen Menschen sind von einer Hungersnot bedroht, eine Million Kinder stehen vor dem Hungertod.
Die katastrophale humanitäre Lage ist auch Folge der Sanktionen und des Abzugs internationaler Gelder aus der afghanischen Wirtschaft. Mit der Machtübernahme der Taliban haben die westlichen Staaten ihre Entwicklungshilfen eingefroren – und damit 75 Prozent des gesamten Haushalts der afghanischen Regierung. Zusätzlich sind afghanische Vermögenswerte in Höhe von neun Milliarden US-Dollar bei ausländischen Banken eingefroren, darunter zwei Milliarden US-Dollar bei europäischen Banken. Die Auswirkungen sind dramatisch: Viele Banken können kein Bargeld auszahlen. Beamt*innen, darunter Ärzt*innen und Lehrer*innen, haben seit August keinen Lohn mehr erhalten. Unternehmen können Wirtschaftspartner oder Angestellte nicht bezahlen.
Die Vereinten Nationen haben zu Beginn des Jahres für Afghanistan mit fünf Milliarden US-Dollar den größten Hilfsappell für ein einziges Land aller Zeiten gestartet. Doch humanitäre Hilfe allein wird nicht reichen. Die westlichen Staaten müssen jetzt umdenken. IRC fordert die deutsche Bundesregierung dazu auf, sich für eine Lockerung der internationalen Sanktionen einzusetzen. Hier sind 5 Forderungen:
- Die Bundesregierung muss durch die schrittweise Freigabe der in deutschen Banken eingefrorenen afghanischen Vermögenswerte die Liquidität des Bankensystems wiederherstellen.
- Deutschland sollte sich für einen Runden Tisch zur afghanischen Wirtschaft mit der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und den wichtigsten Geldgebern einsetzen, um langfristige Finanzierungsmechanismen zu entwickeln.
- Die deutsche Regierung muss bei der Weltbank und internationalen Partnern einfordern, dass die zugesagten Mittel über 1,2 Milliarden US-Dollar des Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) ausgezahlt werden.
- Es ist unklar, ob sich die Sanktionen gegen die gesamte afghanische Regierung oder nur einzelne hochrangige Taliban richten. Die UN-Resolution 2615 klärt hier humanitäre Ausnahmen der Sanktionen. Deutschland sollte sich daher dafür einsetzen, dass die durch die UN-Resolution 2615 verabschiedeten Ausnahmen rasch in EU-Recht umgesetzt werden, sodass Banken die notwendige Absicherung erhalten.
- Neben langfristigen Finanzierungsmechanismen muss Deutschland sich weiterhin dazu verpflichten, genügend Mittel für humanitäre Hilfe bereitzustellen. Bei der nächsten Geberkonferenz im März 2022 sollte die Bundesregierung jährlich 200 Mio. Euro zur Verfügung stellen, und eine Perspektive für die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit schaffen.
Ralph Achenbach, Geschäftsführer IRC Deutschland, sagt:
„Es reicht nicht, nur die Symptome der humanitären Krise zu bekämpfen.Die Hilfe greift nur, wenn das Wirtschaftssystem funktioniert. Und die aktuellen Sanktionen verhindern, dass wir Menschenleben retten. In dieser schweren Krise braucht es ein Umdenken des Westens. Deutschland darf jetzt nicht darauf warten, dass andere Staaten handeln. Die Bundesregierung muss ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban eine Führungsrolle einnehmen, damit die Menschen in Afghanistan wieder Zugang zu Lebensmitteln und grundlegenden Alltagsgütern haben. Anstatt der Taliban bestraft die internationale Gemeinschaft aktuell die gesamte afghanische Bevölkerung.“
David Miliband, IRC CEO und Präsident, ergänzt:
„Noch nie haben wir im 21. Jahrhundert erlebt, dass so schnell die komplette Wirtschaft und Infrastruktur eines Landes zusammenbrechen. Die Menschen stehen vor dem Nichts. Die afghanische Bevölkerung kämpft gleichzeitig mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, Natur- und humanitären Katastrophen. Und die Krisen werden von Tag zu Tag schlimmer.Wir brauchen jetzt eine Finanzspritze, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Andernfalls droht der afghanischen Bevölkerung massenhaftes Elend. Unsere Mitarbeiter*innen vor Ort versorgen immer mehr unterernährte Kinder, sie berichten von Kinderarbeit und jungen Mädchen, die als Ehefrauen verkauft werden. Die Situation scheint ausweglos, ist sie aber nicht. Die internationale Staatengemeinschaft - auch Deutschland - kann jetzt dafür sorgen, dass die Menschen in Afghanistan eine Perspektive bekommen.“
Für Statements und Interviews mit Afghanistan Landesdirektor Vicki Aken, CEO und Präsident David Miliband (beide auf Englisch) oder IRC Deutschland Geschäftsführer Ralph Achenbach (auf Deutsch) wenden Sie sich bitte an [email protected] / [email protected].
Hier finden Sie weiteres Material: Drei afghanische Frauen erzählen, wie Frauen und Kinder die Hauptlast der internationalen Sanktionen und der eingefrorenen Hilfsgelder tragen.