IRC zieht gemeinsam mit 12 NGOs eine kritische Bilanz zur bisherigen Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms, das die Bundesregierung im Oktober 2022 zur direkten Aufnahme von gefährdeten Afghan*innen aufgesetzt hat. Ein halbes Jahr nach Start des Programms ist noch keine Aufnahmezusage erteilt worden. Maßgeblich für den zukünftigen Erfolg sind Anpassungen im Bundesaufnahmeprogramm wie die Einrichtung einer zentralen staatlichen Anlaufstelle für Schutzsuchende, die Berücksichtigung von in Nachbarländer geflohenen Afghan*innen sowie Transparenz über die Aufnahmekriterien und die geplanten Sicherheitsinterviews in Botschaften. Desweiteren wird zur umgehenden Wiederaufnahme des Visaverfahren für Afghan*innen mit bestehender Aufnahmezusage aufgerufen. Diese Schwachstellen bedeuten für die gefährdete Personen zusätzliche Belastungen und Gefahren.

Um das zukunftsweisende Potential des Bundesaufnahmeprogramms durch die notwendigen Korrekturen ausschöpfen zu können, bieten IRC und Partnerorganisationen ihre Expertise und Beratung an.



An
Frau Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser
Frau Bundesministerin des Auswärtigen Annalena Baerbock

Zur Kenntnis an:
Die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe Luise Amtsberg
Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Reem Alabali-Radovan
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Sven Lehmann


Offener Brief: Zwischenbilanz der Zivilgesellschaft zum Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan und weiteren humanitären Aufnahmen
Berlin, 11.05.2023


Sehr geehrte Frau Ministerin Faeser,
sehr geehrte Frau Ministerin Baerbock,

am 17.10.22 verkündete die Bundesregierung das Aufnahmeprogramm für Afghanistan. In dessen Umsetzung sind wir als zivilgesellschaftliche Organisationen (NGOs) mit eigenen Ressourcen einbezogen. Wir begrüßen den Start des Programms, besonders angesichts der sich dramatisch verschlechternden Menschen- und Frauenrechtslage in Afghanistan. Unter dem Eindruck der aktuellen öffentlichen Diskussionen um die Konzeption des Aufnahmeprogramms möchten wir unsere Forderungen erneuern, welche wir der Bundesregierung bereits mit unseren Schreiben vom 01.07.22 und 08.09.22 mitgeteilt haben, und Stellung zu den neueren Entwicklungen nehmen. Wir sind überzeugt, dass eine gute Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Bundesregierung den Erfolg des Bundesaufnahmeprogramms für die Zukunft sichern kann.

Unsere Bilanz zur bisherigen Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms fällt kritisch aus. Wir bedauern, dass bis heute, ein halbes Jahr nach Bekanntgabe des Programms und mehr als eineinhalb Jahre nach der Machtübernahme der Taliban, noch keine einzige Aufnahmezusage über das Bundesaufnahmeprogramm erteilt werden konnte. Wir nehmen dies zum Anlass, um erneut auf konzeptionelle Schwachstellen des Bundesaufnahmeprogramms hinzuweisen, deren Revision wir für maßgeblich für den zukünftigen Erfolg des Aufnahmeprogramms halten.

Unmittelbar gravierend auf die Situation der Schutzsuchenden wirkt sich auch die kürzlich beschlossene Aussetzung des laufenden Ausreise- und Visaerteilungsprozesses aus dem Überbrückungsprogramm aus. In Kombination mit den grundlegenden strukturellen Mängeln des Bundesaufnahmeprogramms führt dies dazu, dass ohnehin gefährdete und vulnerable Personen zusätzlichen Belastungen und Gefahren ausgesetzt sind.

Wir fordern die Bundesregierung deshalb dazu auf, umgehend die Ausreise- und Visaverfahren für Schutzsuchende mit bestehender Aufnahmezusage wiederaufzunehmen. Für besonders dringende und medizinisch brisante Einzelfälle müssen außerdem Ausnahmen vom derzeitigen Stopp der Ausreiseverfahren möglich sein. Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, zu gewährleisten, dass Visaverfahren für Schutzsuchende mit Aufnahmezusage auch in Zukunft an Botschaften außerhalb von Pakistan möglich sind. Sollte die Deutsche Botschaft in Islamabad das Nadelöhr für die Visaerteilung und Ausreise bilden, würde dies eine unzumutbare zusätzliche Belastung für die schutzbedürftigen Afghan*innen bedeuten.

Weiterhin fordern wir insbesondere das Bundesministerium des Innern als federführende Behörde zu folgenden konkreten Anpassungen im Bundesaufnahmeprogramm auf:


1. Zentrale staatliche Anlaufstelle
Zivilgesellschaftliche Organisationen dürfen nicht in die Rolle gebracht werden, zu entscheiden, wer überhaupt Zugang zum Aufnahmeprogramm bekommt. Stattdessen muss es für individuelle Bewerber*innen auch möglich sein, sich direkt bei einer zentralen Anlaufstelle zu registrieren. Nur so kann die Zielsetzung des Programms erfüllt werden, die gefährdetsten und vulnerabelsten Personen zu identifizieren. Außerdem können nur auf diese Weise Missbrauchsversuche zu Lasten der Betroffenen unterbunden werden, über die es nach Start des Programms bereits verschiedene Berichte gab. Darüber hinaus haben die vergangenen Wochen auch gezeigt, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Programms in Deutschland bedroht ist, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen in der öffentlichen Wahrnehmung die Kompetenz zugeschrieben wird, über die Auswahl der Fälle (vor-)zu entscheiden.

Wir sind überzeugt, dass bei der zum Start des Programms eingerichteten Koordinierungsstelle für das Bundesaufnahmeprogramm – deren finanzielle Aufstockung wir begrüßen – nunmehr sowohl die technische Infrastruktur als auch die personellen Kapazitäten vorliegen, um individuelle Bewerbungen für das Programm zu bearbeiten und dem Auswahlpool zuzuführen.


2. Lösung für Personen in Drittstaaten
Bewerber*innen, die in Nachbarländer Afghanistans geflohen sind, müssen im Bundesaufnahmeprogramm berücksichtigt werden. Ihr Ausschluss aus dem Programm trifft häufig die Gefährdetsten, die wegen ihrer akuten Verfolgung in Afghanistan zur Flucht in ein Nachbarland gezwungen waren, wo sie seither in der großen Mehrzahl ohne sichere Bleibeperspektive leben. Er verschärft außerdem die Gefährdungslage akut verfolgter Personen, die sich noch in Afghanistan befinden, da für diese die Notwendigkeit besteht, ihre Ausreise aus Afghanistan zu verzögern, bis ihr Fall von einer NGO erfasst und in das Programm eingetragen werden konnte.
Der Verweis auf potentielles Resettlement ist in diesem Kontext nicht zielführend. Resettlement-Programme können die humanitäre Aufnahme besonders gefährdeter Afghan*innen aus den Nachbarstaaten bereits deshalb nicht ersetzen, da das für Pakistan vorgesehene Kontingent eine andere Zielgruppe adressiert und außerdem deutlich zu gering ist. Für andere fluchtrelevante Nachbarstaaten – etwa Iran und Tadschikistan – liegen derzeit keine Resettlementpläne vor. Sofern gefährdete und vulnerable Afghan*innen in Drittstaaten weiter aus dem Bundesaufnahmeprogramm ausgeschlossen sind, muss es für sie eine Lösung über humanitäre Visa nach §22 S. 2 AufenthG geben. Der Start des Bundesaufnahmeprogramms darf nicht dazu führen, dass Anträge nach §22 S. 2 nicht mehr oder nur noch stark verzögert bearbeitet werden.


3. Transparenz über die Kriterien im Bundesaufnahmeprogramm
Während wir als zivilgesellschaftliche Organisationen die uns zugeschriebene Rolle als Gatekeeper im Bundesaufnahmeprogramm weiterhin kritisch sehen, haben wir der Bundesregierung stets angeboten, unsere Expertise für die Erarbeitung von Aufnahmekriterien für das Bundesaufnahmeprogramm zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich werden die NGOs über die Anwendung der Aufnahmekriterien aber weitgehend im Ungewissen gelassen. Transparenz ist jedoch gerade im Bundesaufnahmeprogramm geboten, da die Auswahl der Fälle über einen standardisierten Fragebogen und ein IT-Scoring System erfolgt. Dadurch wird die Abbildung komplexer individueller Gefährdungslagen deutlich erschwert und es besteht die Gefahr, dass gefährdete Menschen durchs Raster fallen.

Wir fordern das Bundesministerium des Innern dazu auf, die teilnehmenden Organisationen über die Aufnahmekriterien bereits erfolgter Auswahlrunden in Kenntnis zu setzen und diese im Rahmen einer regelmäßigen Arbeitsrunde mit fachkundigen NGOs zu evaluieren. Die bisherige Intransparenz gegenüber den teilnehmenden NGOs führt einerseits zu Ausschlüssen aus dem Programm, die wir aus fachlicher Sicht nicht nachvollziehen können, z.B. von Familienangehörigen, die aufgrund der Tätigkeit einer bereits ins Ausland geflohenen Person verfolgt werden. Sie hat außerdem zur Folge, dass die Ergebnisse der Auswahlprozesse aus Sicht der NGOs nicht überprüfbar sind und das IT-Scoring System als Black Box Ergebnisse auswirft, die mit den tatsächlichen Gefährdungslagen in Afghanistan nicht abgeglichen werden können.


Darüber hinaus beziehen sich unsere Forderungen auf die geplanten Anpassungen der Visumsverfahren in den Botschaften:


4. Transparenz über Verfahrensänderungen in den Botschaften, insbesondere Sicherheitsinterviews
Wir fordern die Bundesregierung auf, die geplanten Verfahrensänderungen in den Botschaften gegenüber den am Bundesaufnahmeprogramm beteiligten NGOs transparent zu machen, und deren Konsequenzen für Antragsteller*innen diesen gegenüber zeitnah und umfassend zu kommunizieren. Insbesondere fordern wir das Bundesministerium des Innern auf, die am Aufnahmeprozess beteiligten NGOs über die Rechtsgrundlage und die grundlegenden Schwerpunkte der zukünftig geplanten Sicherheitsinterviews zu informieren. Wir betonen außerdem, dass die Interviews unter Wahrung der Rechte der Antragsteller*innen und im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens durchgeführt werden müssen. Darüber hinaus unterstreichen wir die Notwendigkeit, die Interviews auf die Bedürfnisse vulnerabler Personen – u.a. Minderjährige, vulnerable Frauen, LSBTIQ Personen, Personen mit Pflegebedarf und traumatisierte Personen – abzustimmen, diese in geschützten Räumen durchzuführen und entsprechend qualifiziertes Personal zur Verfügung zu stellen.

Angesichts des Umfangs und des Modellcharakters des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan halten wir die Erarbeitung transparenter Verfahrensstandards für die Sicherheitsinterviews für geboten. Zivilgesellschaftliche Organisationen mit Fokus in diesem Bereich bieten der Bundesregierung an, ihre Expertise u.a. in Bezug auf vulnerable Personengruppen in diesen Prozess einzubringen.

 

Unter dem Eindruck der öffentlichen Diskussion der letzten Wochen betonen wir erneut, dass wir die Auslagerung staatlicher Aufgaben in der Umsetzung des Aufnahmeprogramms an die Zivilgesellschaft ablehnen.

Gleichzeitig erkennen wir das zukunftsweisende Potential des Bundesaufnahmeprogramms an und sind weiterhin bereit, unsere Expertise im Rahmen einer Kooperation auf Augenhöhe zwischen Zivilgesellschaft und Regierung beratend und evaluierend in die Umsetzung des Programms einzubringen. Zu diesem Zweck regen wir die Wiederaufnahme regelmäßiger Arbeitstreffen zwischen den am Aufnahmeprogramm beteiligten Behörden und den involvierten zivilgesellschaftlichen Organisationen an.


Unterzeichner*innen:
Tilly Sünkel, Projektleitung, Kabul Luftbrücke
Stephanie Huber-Nagel, Projektmanagerin Nothilfe Afghanistan, Reporter ohne Grenzen
Corina Pfitzner, Interim Geschäftsführung, International Rescue Committee Deutschland
Christa Stolle, Bundesgeschäftsführung, Terrre des Femmes – Menschenrechte für die Frau e.V.
Marita Muukkonen und Ivor Stodolsky, Gründungsdirektion, Artists at Risk
Eva Bitterlich, Koordination Afghanistan, medico international
Line Niedeggen, Climate Activist Defenders
Philipp Braun, Bundesvorstand, Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) e.V.
Prof. Dr. Maria Wersig, Präsidium, Deutscher Juristinnenbund e.V.
José Oliver, Präsident, und Astrid Vehstedt, Writers-in-Exile Beauftragte, für das Präsidium des PEN-Zentrum Deutschland
Serap Altinisik, Vorstandsvorsitz, Oxfam Deutschland e.V.
Dr. Patoni Teichmann, Executive Director, European Organisation for Integration e.V
Dr. Marc Petit und Dr. Christian Schnabel für den Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung