Berlin, 24. März 2022 — Sieben Jahre nach der Eskalation des Konflikts in Jemen warnt International Rescue Committee (IRC), dass die Zivilbevölkerung immer noch die Hauptlast des Krieges trägt. Seit 2015 wurden mehr als 19.000 Zivilist*innen getötet oder verletzt, darunter 139 zivile Todesopfer und 187 verletzte Zivilist*innen allein im Januar 2022 - die meisten Opfer in einem Monat seit Beginn des Krieges. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges und die seit Jahren unzureichende Finanzierung der humanitären Hilfe in Jemen haben dazu geführt, dass 17 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Über 20 Millionen Menschen sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Hier muss schnellstmöglich nachgebessert werden, um sich mit der jemenitischen Bevölkerung zu solidarisieren.
IRC appelliert an die Staats- und Regierungschef*innen und die Geberländer, ihre Zusagen für die humanitäre Hilfe zu erhöhen. Die Finanzierung ist derzeit nach der hochrangigen Geberkonferenz am 16. März zu weniger als 30% erfüllt. Auch die finanzielle Zusage der Bundesregierung bleibt mit €110 Millionen hinter den Zusagen der letzten Jahre zurück.
In den letzten Jahren haben schwere wirtschaftliche Schocks - darunter eine historische Währungsabwertung, die zu steigenden Preisen führte - dazu geführt, dass Millionen von Jemenit*innen sich die Grundversorgungsmittel nicht mehr leisten können. Ein Fünftel der jemenitischen Weizenimporte stammt aus der Ukraine und Russland, und der dortige Krieg hat bereits zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise geführt. Tragischerweise könnte sich die Nahrungsmittelkrise noch verschlimmern, wenn die humanitäre Hilfe die bedürftigen Menschen nicht erreicht.
Gleichzeitig leidet die Zivilbevölkerung unter den direkten Auswirkungen des Krieges, und die Zahl der zivilen Opfer steigt erneut. Seit der Auflösung der Group of Eminent Experts (das UN-Menschenrechtsrat mandatierte Gremien zur Dokumentation von Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Jemen) ist die Zahl der Luftangriffe durch die von Saudi-Arabien angeführte Koalition und die Angriffe der Ansar Allah in den Vereinigten Arabischen Emiraten um 43% gestiegen. Diese Trends zeigen deutliche Versagen der internationalen Rahmenregelungen, mit denen die Kriegsparteien zur Verantwortung gezogen werden sollen.
Im achten Jahr des Jemen-Konflikts muss die internationale Aufmerksamkeit vorrangig der Sicherheit und dem Schutz der Zivilbevölkerung gelten. Ein landesweiter Waffenstillstand ist dringend erforderlich, um die bedürftigsten Menschen mit humanitärer Hilfe zu erreichen. Die Beendigung dieses Konflikts ist der einzige Weg, um die humanitäre Katastrophe zu beenden. Es ist dringend erforderlich, sich für Diplomatie, Rechenschaftspflicht, den Schutz der Zivilbevölkerung und den Zugang für humanitäre Organisationen wie International Rescue Committee zu engagieren, um den Bedarf in großem Umfang zu decken. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss im Mittelpunkt des diplomatischen Engagements Deutschlands und im Zentrum der UN-geleiteten Friedensgespräche stehen. Die Bundesregierung sollte ihr diplomatisches Gewicht gemeinsam mit G7-Partnerregierungen einsetzen um alle Konfliktparteien zurück zum Verhandlungstisch zu bringen und sicherstellen, dass Frauen maßgeblich beteiligt sind.
Ralph Achenbach, Geschäftsführer IRC Deutschland, sagt:
“Die humanitäre Hilfe im Jemen ist drastisch unterfinanziert, und die Bedingungen für die jemenitische Bevölkerung verschlechtern sich. Für den UN-Hilfsplan für Jemen 2021 waren nur 2,27 Milliarden USD der benötigten 3,85 Milliarden USD bereitgestellt, was dem niedrigsten Finanzierungsniveau seit 2015 entspricht. Deutschland ließ die Jemen-Krise bisher nicht zu einer "vergessenen Krise" werden, dank der bisher konstant hohen finanziellen Unterstützung durch die Bundesregierung, zuletzt 2021 als drittgrößter Geber mit rund 252 Milliarden US-Dollar. Angesichts der aktuellen Lage muss dieses Engagement beibehalten werden und die Bundesregierung auf dieser Basis andere Geberregierungen auffordern ihren Beitrag zur vollständigen Finanzierung des UN-Hilfsplans für zu leisten. Ausgehend von den enttäuschenden Ergebnisse der Geberkonferenz am 16. März warnt IRC vor, dass die derzeit massive Finanzierungslücke Menschenleben kosten wird.
In Wirklichkeit, kann die humanitäre Krise in Jemen kann nur politisch gelöst werden. In diesem Wissen sollte die Bundesregierung ihr diplomatisches Gewicht und die hervorgehobene Geberrolle, auch im Rahmen der G7-Präsidentschaft, gemeinsam mit Partnern für diese Ziele einsetzen: Erstens, auf die international anerkannte Regierung des Jemen und Saudi-Arabiens einwirken um die Beschränkungen für Treibstoffimporte aufzuheben. Durch mehr Treibstoff wird eine Geldquelle von Ansar Allah eingeschränkt und die hohe Inflation bekämpft, die Millionen Menschen in die Ernährungsunsicherheit treibt. Zweitens sollte die Bundesregierung sich für die fortgesetzte Beteiligung aller Konfliktparteien am UN-geführten Friedensprozess einsetzen, inklusive politischer und militärischer Kräfte jenseits von Ansar Allah und der international anerkannte Regierung. Die Friedensgespräche müssen die Ursachen und die Zersplitterung des Konflikts im Jemen anerkennen sowie eine maßgebliche Beteiligung von Frauen und Jugendlichen als besonders betroffene Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Ergebnis des bevorstehenden G7-Gipfel sollte eine gemeinsame, ausdrückliche Bekenntnis hochrangiger Geberländer zu den Friedensbemühungen in Jemen sein.”
Tamuna Sabadze, IRC-Länderdirektorin für Jemen, sagt:
"Während sich die internationale Aufmerksamkeit auf andere Konflikte verlagert, darf die Welt die Menschen in Jemen nicht vergessen. Das jemenitische Volk erlebt immer noch einen erbitterten Konflikt, der durch eklatante Verletzungen des humanitären Völkerrechts gekennzeichnet ist. Nach Angaben des Yemen Data Project haben die Luftangriffe der von Saudi-Arabien geführten Koalition im ersten Monat des Jahres 2022 mehr zivile Opfer gefordert als in den beiden vorangegangenen Jahren zusammen. Auch Angriffe auf Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate fügen der Zivilbevölkerung weiterhin Schaden zu. Das Leid dauert schon viel zu lange an. Diejenigen, die Einfluss auf die Kriegsparteien haben, müssen sich für eine diplomatische Lösung dieser Krise einsetzen, die Millionen von unschuldigen Jemenit*innen Leid gebracht hat.
Die Gewalt hat auch die zivile Infrastruktur schwer beschädigt. Trotz des Schutzes durch das humanitäre Völkerrecht wurden über 25.000 Schulen beschädigt oder zerstört. Die Zahl der Kinder, die keine Schule besuchen, hat sich seit Kriegsbeginn mehr als verdoppelt - von 900.000 auf über 2 Millionen. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass zwei Drittel der Lehrer*innen seit über vier Jahren nicht mehr bezahlt wurden. Seit Beginn des Krieges wurden 10.000 Kinder getötet. Nur 50% der Krankenhäuser im Jemen sind voll funktionsfähig, und in der Bevölkerung treten immer häufiger Gesundheitsprobleme wie Denguefieber und Cholera auf."
IRC ist seit 2012 im Jemen tätig und hat den Umfang der Hilfsmaßnahmen 2015 rasch ausgeweitet, um den durch den Konflikt verursachten, größeren Bedarf an humanitärer Hilfe zu decken. Obwohl der anhaltende Konflikt Herausforderungen schafft, hat IRC den Zugang zu den betroffenen Menschen aufrechterhalten und stellt weiterhin lebensrettende Dienste zur Verfügung – darunter die Behandlung von Unterernährung, Gesundheitsdienste, Wasser- und Sanitärversorgung, Bargeldleistungen sowie Case-Management-Angebote und Bildungsprogramme.