Mehr als 85 Prozent der befragten Syrer*innen in Nordsyrien haben Schulden; mehr als 90 Prozent von ihnen können sie nicht zurückzahlen.
60 Prozent der Befragten müssen Schulden aufnehmen, um Lebensmittel kaufen zu können.
Fast 50 Prozent geben als Haupteinnahmequelle den Verkauf von Produkten an (bspw. Tierprodukte, Getreide, landwirtschaftliche Produkte, Fisch, Vieh und Gas).
Es fehlt fast 60 Prozent der Befragten vor allem an Lebensmitteln oder Geld für Lebensmittel.
40 Prozent berichten von Kinderarbeit auf lokalen Märkten. Grund dafür ist hauptsächlich Armut und damit die Notwendigkeit, dass alle in der Familie etwas zum Lebensunterhalt beitragen müssen.
Amman, Jordanien, 14. März 2024 — Der Konflikt in Syrien geht ins vierzehnte Jahr und der Bedarf an humanitärer Hilfe ist so hoch wie nie. Zeitgleich werden die Finanzierungen für Hilfsleistungen reduziert. International Rescue Committee (IRC) fordert eine Aufstockung der Mittel für humanitäre Hilfe und Wiederaufbaumaßnahmen sowie einen dauerhaften, uneingeschränkten Zugang zur humanitären Hilfe. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle betroffenen Menschen in Syrien die lebenswichtige Unterstützung erhalten, die sie dringend benötigen.
Derzeit sind fast drei Viertel der syrischen Bevölkerung – mehr als 16,5 Millionen Menschen – auf irgendeine Form von humanitärer Hilfe angewiesen. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Krise im Jahr 2011; neun Prozent mehr als im Jahr 2023 und 25 Prozent mehr als im Jahr 2021. Aufgrund des Konflikts ist ein Großteil der Infrastruktur zerstört, die Grundversorgung ist oft nicht gewährleistet und die Wirtschaft befindet sich in einer schweren Krise. Über 90 Prozent der syrischen Bevölkerung leben in Armut.
IRC ist in Nordsyrien tätig, wo zurzeit die höchsten Gewaltraten seit 2020 zu verzeichnen sind. Ende letzten Jahres kam es im Nordwesten des Landes zu Angriffen, die über 12.000 Menschen vertrieben. Einige IRC-Klient*innen wurden seit Beginn der Krise 2011 insgesamt mehr als 20 mal vertrieben. Auch im Nordosten des Landes kam es in diesem Jahr zu Angriffen, die Hunderte von wichtigen zivilen Einrichtungen trafen. Dazu gehörten Wasserstationen, Gesundheitszentren, Schulen und andere lebenswichtige Infrastruktur, die nun nur noch teilweise oder gar nicht mehr betrieben werden können. Mehr als eine Million Menschen im Nordosten Syriens haben keinen regulären Zugang zu Strom.
Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien, kommentiert:
„In diesem 14. Jahr der Krise sind die Auswirkungen auf die syrische Bevölkerung verheerender als je zuvor. Fast zwei Drittel aller Befragten sagten uns, dass ihre größte Sorge sei, genügend Lebensmittel aufzutreiben. Viele können sich die hohen Lebensmittelpreise nicht leisten und das Geld reicht nicht aus, um das Nötigste zu kaufen. Die Erhebung des Food Cosumption Score, der die Ernährungssituation von Familien einstuft, ergab im letzten Jahr einen Anstieg von über 25 Prozent. Damit befindet sich Syrien auf der schlechtesten Stufe des Scores („poor“).
Einfach ausgedrückt bedeutet das, dass die Zahl der syrischen Haushalte steigt, die weniger regelmäßig essen. Zeitgleich haben diese Haushalte Schwierigkeiten, nahrhafte und vielseitige Mahlzeiten zu sichern. Die Recherche von IRC zeigt hohe Raten von Mangelernährung bei Kindern unter fünf Jahren – vor dem Konflikt waren so gut wie keine Kinder von Mangelernährung betroffen. Zudem sahen fast 20 Prozent der Befragten in Mangelernährung ein Risiko für die Entwicklung ihrer Kinder.
Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiterhin und die Lebensmittelpreise steigen. Syrer*innen müssen täglich unmögliche Entscheidungen treffen. Eltern müssen negative Bewältigungsmechanismen anwenden, z. B. ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule schicken. Vier von zehn Personen berichten von Kinderarbeit auf den lokalen Märkten: Familien sehen oft aufgrund der großen Armut keinen anderen Ausweg, als ihre Kinder zur Arbeit zu zwingen. Die Not ist so groß, dass alle Familienmitglieder etwas zum Lebensunterhalt beitragen müssen.”
Auch humanitäre Organisationen müssen unmögliche Entscheidungen treffen: Welche Hilfsleistungen haben Vorrang und welche müssen gestrichen werden? Die Finanzierungsengpässe für den humanitären Hilfsplan für Syrien vergrößern sich seit mehreren Jahren stetig. 2023 erhielt der humanitäre Hilfsplan weniger als 40 Prozent der notwendigen Mittel. Die Prognosen für 2024 deuten darauf hin, dass noch größere Kürzungen bevorstehen. Diese Finanzierungslücke wirkt sich bereits jetzt direkt auf die Kapazitäten von Organisationen wie IRC aus. So wird es immer schwieriger, medizinische Dienste anzubieten, übertragbare Krankheiten zu behandeln und schwangere und stillende Frauen zu versorgen. Die Belastung für betroffene Menschen steigt weiter.
Evans fügt hinzu:
„Die katastrophalen Erdbeben im Februar 2023 haben die Infrastruktur zerstört und noch mehr Menschen im Nordwesten Syriens in einem Kreislauf aus Armut und Vertreibung gestürzt. Mehr als ein Jahr später haben die Menschen in Syrien nach wie vor Schwierigkeiten, ihr Leben wiederaufzubauen. Sie erleben dabei jeden Tag, wie immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Bemühungen, die Krise in Syrien zu beenden, stagnieren und die internationale Aufmerksamkeit lässt nach. Zivilist*innen zahlen weiterhin den Preis dafür. Die Krise geht nun in ihr vierzehntes Jahr und die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln. Sie muss dringend eine nachhaltige Finanzierung bereitstellen, die sowohl die steigenden humanitären Bedarfe deckt als auch den Wiederaufbau der Gemeinden unterstützt."
IRC in Syrien
- IRC ist seit 2012 im Nordwesten und Nordosten Syriens tätig. IRC unterstützt im Bereich frühkindliche Entwicklung und bietet Beratungs- und Schutzdienste für Frauen und Kinder, insbesondere für Überlebende von Gewalt. IRC ist in Gesundheitseinrichtungen aktiv und entsendet mobile Gesundheitsteams zur Traumaversorgung und für grundlegende Dienstleistungen, unter anderem für reproduktive und psychische Gesundheit. IRC-Teams fördern auch den wirtschaftlichen Wiederaufbau, u.a. durch Schulungen und Ausbildungen von Einzelpersonen sowie der Förderung von Kleinunternehmen.
- IRC reagiert außerdem auf Notfälle in Syrien, z. B. nach den Erdbeben im Februar 2023. Gemeinsam mit Partnerorganisationen stellt IRC sicher, dass lebenswichtige Dienste und Hilfsgüter – einschließlich Bargeldhilfe oder dringend benötigter Medikamente – die Menschen so schnell wie möglich erreichen. Im Haushaltsjahr 2023 erreichte IRC zusammen mit Partnerorganisationen über 1,9 Millionen Menschen in Syrien (63 Prozent Frauen, 37 Prozent Männer). IRC unterstützt außerdem syrische Geflüchtete in den Nachbarstaaten.
Studienergebnisse der sektorübergreifenden Bedarfsanalyse (Multi-Sector Needs Assessment) Syrien (März 2024)
Hintergrundinformationen
Um das Ausmaß der Krise besser zu verstehen, führt IRC jährlich eine sektorübergreifende Bedarfsanalyse (Multi-Sector Needs Assessment) durch. Bei dieser werden fast 3.000 Menschen in fünf der nördlichen Gouvernements Syriens befragt. Zu den Befragten gehören Binnenvertriebene aus Syrien, Menschen, die inzwischen in ihre Heimatstädte zurückgekehrt sind, und Gemeinden, die vertriebene Familien aufgenommen haben.
Erholung und Lebensgrundlagen
- Die größte Herausforderung für die Bevölkerung, um ein eigenes Einkommen zu generieren, ist der Mangel an ausreichend Kapital zur Gründung von Unternehmen.
- 60 Prozent der Haushalte gaben an, Lebensmittel über Kredite/Schulden gekauft zu haben.
- 86 Prozent der Befragten gaben an, Schulden zu haben, während 91 Prozent nicht in der Lage seien, die Schulden zu begleichen.
- 59 Prozent der Teilnehmenden gaben Lebensmittel oder Geld für Lebensmittel als größten Bedarf für ihren Haushalt an. Darauf folgen medizinischen Bedürfnisse (14 Prozent), Wasser und sanitäre Einrichtungen (10 Prozent) und Bildung für Kinder (6 Prozent).
- 70 Prozent der Teilnehmenden gaben den lokalen Handel als Hauptquelle für Gemüse und Obst an. 38 Prozent gaben an, dass Mehl für die Region hauptsächlich aus Importen aus dem Ausland stamme.
- Die Ergebnisse der Bedarfsanalyse zeigen, dass die größten Herausforderungen beim Zugang zu Lebensmitteln die hohen Lebensmittelpreise (41 Prozent) und das fehlende Geld zum Kauf von Lebensmitteln (36 Prozent) sind.
Gesundheit und WASH (Wasser, sanitäre Einrichtungen und Hygiene)
- 79 Prozent der Befragten haben in den letzten 30 Tagen eine fachärztliche Behandlung erhalten.
- 30 Prozent von ihnen erhielten zahnärztliche Leistungen, 16 Prozent HNO-Leistungen, 15,5 Prozent augenärztliche Leistungen, 10 Prozent chirurgische Leistungen, 7 Prozent Leistungen der Augenoptik und 20 Prozent andere fachärztliche Behandlungen.
- 19 Prozent der Befragten gaben an, dass sie die Gesundheitsversorgung aus mindestens einem der folgenden Gründe als „mangelhaft“ empfanden: Sie erhielten nicht die benötigte Behandlung oder medizinische Unterstützung (30 Prozent); die Gesundheitsdienstleister*innen seien nicht kompetent gewesen (22 Prozent); das Gesundheitspersonal habe sich nicht genug Zeit für sie genommen (15 Prozent); die Warteschlange sei lang gewesen bzw. haben sie zu lange warten müssen (10 Prozent); die Gesundheitsdienstleister*innen seien unhöflich gewesen (9 Prozent); oder die Einrichtung überfüllt (8 Prozent).
- Es besteht ein hoher Bedarf an gesundheitlicher Versorgung, vor allem in Nordostsyrien, wo der Zugang zu öffentlichen Gesundheitseinrichtungen begrenzt ist. Die Mehrheit der Menschen (47 Prozent) wendet sich dort zuerst an Apotheken, wenn sie medizinische Hilfe benötigen. Im Nordwestsyrien (50 Prozent) besucht die Mehrheit zuerst öffentliche Gesundheitseinrichtungen.
- In Nordostsyrien nannten 47 Prozent der Teilnehmenden Apotheken als erste Option, wenn sie ärztliche Hilfe benötigen, gefolgt von Krankenhäusern (18 Prozent), öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (17 Prozent), privaten Ärzt*innen (16 Prozent) und schließlich andere Methoden (3 Prozent) wie Selbstmedikation, traditionelle Heiler*innen (und Kräuterkundige) usw. als letzte Option.
- In Nordwestsyrien nannten 50 Prozent der Teilnehmenden öffentliche Gesundheitseinrichtungen als erste Option, wenn sie ärztliche Hilfe benötigen, gefolgt von Krankenhäusern (43 Prozent), Apotheken (5 Prozent), privaten Ärzt*innen (2 Prozent) und schließlich andere Methoden (~1 Prozent) wie Selbstmedikation, traditionelle Heiler*innen (und Kräuterkundige) usw.
Sicherheit
- 74 Prozent der Befragten gaben an, dass sie in den letzten 90 Tagen mit mindestens einem Sicherheitsrisiko konfrontiert waren. Von diesen gaben 21 Prozent an, dass physische und logistische Hindernisse die Mobilität verhinderten, 20 Prozent berichteten von Sicherheitsrisiken im Zusammenhang mit Vertreibung und 17 Prozent von Sicherheitsrisiken im Zusammenhang mit dem Konflikt.
- 45 Prozent der Frauen fühlen sich in bestimmten Bereichen unsicher, z.B. an Kontrollpunkten (36 Prozent), in öffentlichen Verkehrsmitteln (16 Prozent) und auf dem Markt (12 Prozent).
- Darüber hinaus berichteten 17 Prozent der Teilnehmenden, dass Frauen in ihrem Haushalt Anzeichen von psychosozialer Belastung aufweisen (wie Albträume, anhaltende Traurigkeit, extreme Müdigkeit, häufiges Weinen oder Ängstlichkeit). 14 Prozent berichteten, dass Männer Anzeichen von psychosozialer Belastung aufweisen.
- 12 Prozent berichteten, dass sie einen Feedback- oder Beschwerdemechanismus für humanitäre Hilfe kennen. 16 Prozent der Befragten gaben an, dass der Schutz vor Naturkatastrophen die oberste Priorität sei, um ihre derzeitige Unterkunft zu einem besseren Ort zum Leben zu machen, gefolgt von einem verbesserten Zugang zu Elektrizität/Beleuchtung (14 Prozent) und dem Schutz vor menschengemachten Gefahren (10 Prozent).
- 45 Prozent der Befragten gaben als Hauptgrund für fehlende Ausweisdokumente an, dass sie verloren gegangen seien, gefolgt von 42 Prozent, die sie aufgrund von Vertreibung zurücklassen mussten. 5 Prozent gaben an, die Dokumente seien von den Behörden beschlagnahmt worden.
- In Nordostsyrien gaben 67 Prozent der Teilnehmenden als Hauptgrund für fehlende Ausweisdokumente an, dass sie verloren gegangen seien, gefolgt von 10 Prozent, die sie aufgrund von Vertreibung zurücklassen mussten und 8 Prozent, die angaben, sie seien von den Behörden beschlagnahmt worden.
- In Nordwestsyrien gaben 51 Prozent der Befragten als Hauptgrund für fehlende Ausweisdokumente an, dass sie sie aufgrund von Vertreibung zurücklassen mussten, gefolgt von 39 Prozent, die angaben, dass sie verloren gegangen seien und 4 Prozent, die angaben, sie seien von den Behörden beschlagnahmt worden.
- 30 Prozent der Teilnehmenden gaben an, wegen fehlender Ausweisdokumente Schwierigkeiten zu haben, ihre Ausbildung fortzusetzen. 29 Prozent gaben an, dass sie sich nicht frei bewegen und bestimmte Gebiete nicht passieren könnten, und 19 Prozent gaben an, dass fehlende Ausweisdokumente sie daran hinderten, humanitäre Hilfe zu erhalten.