44 Prozent der befragten ukrainischen Eltern haben eine negative Veränderung im Verhalten ihrer Kinder festgestellt, seit sie in Polen angekommen sind.
Fast 50 Prozent der geflüchteten Kinder sind derzeit im polnischen Bildungssystem angemeldet, wobei 30 Prozent von ihnen auch Online-Kurse von der Ukraine aus besuchen, so UNICEF.
„Die ganze Welt verlieren“ ist die vorherrschende Botschaft aus den Gesprächen mit Kindern aus der Ukraine.
Warschau, Polen, 30. August 2023 — Soziale Isolation, mangelnde Sprachkenntnisse und die Auswirkungen von Trauma und Vertreibung bereiten Kindern aus der Ukraine immer noch erhebliche Hindernisse bei der Integration in das polnische Bildungssystem, zeigt eine aktuelle Umfrage von International Rescue Committee (IRC). Am 4. September beginnt das dritte Schuljahr seit der Eskalation des Ukrainekrieges. Viele der über 170.000 ukrainischen Kinder, die derzeit polnische Schulen besuchen, stehen vor der Herausforderung eines verfrühten Erwachsenwerdens und einer ungewissen Zukunft.
Alan Moseley, IRC-Landesdirektor für Polen, sagt:
„Zu Beginn des neuen Schuljahres wird jede der 85.000 polnischen Klassen mindestens ein geflüchtetes Kind aufnehmen. Unser neuer Bericht zeigt, dass geflüchtete Kinder aus der Ukraine trotz der Willkommenskultur durch die Aufnahmegemeinden immer noch auf deutliche Hindernisse beim Versuch stoßen, sich in der Schule zu integrieren. Sie erzählen, dass es für sie aufgrund der kulturellen Unterschiede und mangelnder Polnischkenntnisse schwierig ist, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen.
Die IRC-Umfrage hat mehrere besorgniserregende Aspekte aufgezeigt. Eine Mutter berichtete, dass ihr Kind in der Schule mit Kommentaren wie „Geh zurück in die Ukraine“ gemobbt wurde. Ein anderes Elternteil äußerte sich besorgt darüber, dass ihr Sohn, der eine Behinderung hat, aufgrund seiner Nationalität und seiner Behinderung ausgeschlossen wird.“
Ein 14-jähriges Kind, das in Siedlce in der Woiwodschaft Masowien lebt, erzählte IRC:
„Ich besuche eine polnische Schule. In unserer Schule gibt es noch sechs andere ukrainische Kinder und ein Mädchen aus Belarus, das schon vor ein paar Jahren hierher gekommen ist, aber wir haben nicht viel Kontakt. [...] Wir haben keinen Kontakt zu polnischen Kindern. Sie ignorieren uns in der Schule. Dies ist die zweite Schule, die ich hier besucht habe. Zuerst ging in eine andere Schule hier in Siedlce. Am ersten Tag waren alle polnischen Kinder ganz aufgeregt, dass ukrainische Kinder ihre Klassenkameraden werden sollten. Sie fragten nach unseren Instagram-Profilen und folgten uns dort. Aber das änderte sich ganz schnell wieder.“
Moseley fügt hinzu:
„Viele der erwachsenen Umfrageteilnehmenden haben angegeben, mit Unsicherheit auf ihre Zukunft zu blicken. Es ist davon auszugehen, dass diese Unsicherheit, zusammen mit der tatsächlichen oder wahrgenommenen Diskriminierung, auch die Motivation der Kinder, Polnisch zu lernen und sich zu integrieren, beeinflussen kann. Deshalb ist es wichtig, noch mehr Wert auf Inklusion zu legen, polnische und ukrainische Kinder zusammenzubringen, eine Atmosphäre von Verständnis zu schaffen und das Voneinander-Lernen zu fördern. Wie ein 13-jähriger Junge aus der Ukraine feststellte, hat ihm die Verbesserung seiner polnischen Sprachkenntnisse dabei geholfen, sich in der Schule als Teil einer Gruppe zu fühlen.“
IRC arbeitet aktiv mit Kindern, Schüler*innen und Lehrkräften zusammen, um ein inklusiveres Schulumfeld zu schaffen. In enger Zusammenarbeit mit dem Polish Migration Forum unterstützt IRC interkulturelle Assistent*innen, die als Brücke zwischen ukrainischen Familien und der polnischen Schulgemeinschaft fungieren. Die Assistent*innen spielen eine entscheidende Rolle, Familien dabei zu helfen, sich von schwierigen Erfahrungen zu erholen und mit ihrer neuen Lebensrealität zurechtzukommen.
Im Folgenden zeigen wir einige Auszüge aus den IRC-Interviews, die die Herausforderungen verdeutlichen, denen geflüchtete Kinder aus der Ukraine in Polen begegnen.
Langanhaltender Stress und die Symptome
„Ich glaube, ich bin jetzt reifer und mehr mit der Ukraine verbunden als ich es damals war. Ich behalte alle Alarm-Apps für meine Region im Auge und wache oft nachts auf, um den Status zu überprüfen. Ich bekomme immer Angst, wenn ich ein Flugzeug oder einen Hubschrauber im Anflug höre. Als der Krieg begann, haben mir meine Eltern Schlaftabletten gegeben, weil ich nicht schlafen konnte. Ich frage mich auch oft, ob Polen wirklich ein sicheres Land ist.“ (Mädchen, 17, Siedlce)
Einige Kinder haben Schwierigkeiten, mit den schrecklichen Erinnerungen vom Krieg in der Ukraine und dem Stress durch Vertreibung zurechtzukommen. Ein Muster, das sich bei der Analyse herauskristallisiert hat und möglicherweise symptomatisch für Stress bei Kindern ist, ist das Auftreten von Essstörungen. Ein 15-jähriges Mädchen aus Warschau erzählte, dass sie seit ihrer Ankunft in Polen abgenommen habe, weil sie manchmal „vergisst zu essen“. Ein 12-jähriger Junge hat das Gegenteil erzählt: er habe durch den Stress mehr gegessen und zugenommen. Andere gesundheitliche Probleme, von denen die Teilnehmenden berichteten, sind Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Angstzustände.
Ungewissheit über die Zukunft
"Wir lebten in einem Dorf in der Ukraine, wo ich viele Freunde hatte. Wir haben die meiste Zeit draußen im Freien verbracht. Jetzt leben wir in dieser ruhigen Kleinstadt, in der kaum etwas passiert. Ich habe keine Freunde und gehe selten nach draußen.“ (Mädchen, 14, Siedlce)
„Früher war ich glücklicher. Jetzt habe ich viele Verpflichtungen und stehe vor Entscheidungen, die meine Zukunft betreffen. Das beeinflusst mich so sehr. Ich bin weniger kommunikativ, weniger selbstbewusst, zurückhaltender und trauriger geworden.“ (Mädchen, 14, Siedlce)
„Die ganze Welt zu verlieren“ ist ein geläufiges Narrativ, vor allem unter den Kindern, die in Dörfern und Kleinstädten lebten, bevor sie nach Polen kamen.
Verfrühtes Erwachsenwerden
„Zuerst versuche ich immer, meine Probleme selbst zu lösen. Ich will meinen Eltern nicht zur Last fallen. Wenn ich es alleine nicht schaffe, melde ich mich bei meiner Mutter, obwohl sie in der Ukraine ist. Wenn ich in Polen Hilfe brauche, frage ich die Mutter meines Freundes, die auch mein gesetzlicher Vormund ist.“ (Mädchen, 17, Siedlce)
„Die Schule habe ich jetzt abgeschlossen und ich möchte anfangen, Vollzeit zu arbeiten, um Geld für mich zu verdienen und meinen Eltern den Umzug nach Polen zu erleichtern.“ (Mädchen, 17, Woiwodschaft Masowien)
Manche Jugendliche fühlen sich mit ihren Problemen allein gelassen. Die Befragten gaben an, nur begrenzten Kontakt zu ihren Eltern zu haben oder das Gefühl zu haben, „eine Last zu sein“, was ein allgemeines Gefühl der Isolation auslöst. Ein 14-jähriges Mädchen erzählte zum Beispiel, dass die Person, die sie normalerweise um Hilfe bitte, nicht ihre Mutter, sondern ihre gleichaltrige Schwester sei. Sie berichtete auch, dass sie sich in bestimmten Situationen unwohl oder sogar unsicher fühle, aber nicht mit ihrer Mutter darüber spreche, damit diese sich keine Sorgen mache. Mehrere Teilnehmende erwähnten, dass sie sich nicht nur für ihre eigene finanzielle Situation verantwortlich fühlen, sondern auch für die ihrer Eltern.