Amman, Jordanien, 7. November 2023 — In den letzten vier Wochen hat sich die weltweite Aufmerksamkeit zunehmend auf die Todesfälle, Zerstörung und Vertreibung in Israel und Gaza gerichtet. Die Ereignisse dort sind beispiellos und das menschliche Leid verheerend. Die alleinige Aufmerksamkeit von International Rescue Committee (IRC) gilt dem Leben der Zivilbevölkerung und der Frage, wie wir sie dabei unterstützen können, die Kampfhandlungen zu überleben, die immer intensiver und tödlicher werdenden. Im Moment bedeutet das, den Fokus auf Gaza zu legen, wo mehr als 2 Millionen palästinensische Zivilist*innen jeden Tag Gefahr und Unheil ausgesetzt sind. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen bezeichnet dies als eine „humanitäre Katastrophe“. Das ist richtig.
Es muss unbedingt verhindert werden, dass es zu weiteren Todesfällen und menschlichem Leid für die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza kommt. Ein IRC-Team ist vor Ort in Ägypten und versucht, zusammen mit Partnerorganisationen Hilfsgüter zu liefern, maßgeschneiderte und spezialisierte Unterstützung in den Bereichen Gesundheit, Wasser und Sanitärversorgung (WASH) zu leisten, sowie den Schutz von Kindern und Frauen und psychosoziale Maßnahmen zu gewährleisten. Jedoch sind die Hilfslieferungen nach und um Gaza stark reduziert aufgrund von Zugangshindernissen, die durch die Kampfhandlungen sowie langsame, komplizierte Kontrollen am Grenzübergang Rafah verursacht werden, und dem gefährlichen Mangel an Treibstoff. Rund 700 LKW-Ladungen an Hilfsgütern warten am Grenzübergang auf den Durchlass. Doch aufgrund der langsamen Kontrollen, des Mangels an Treibstoff und der Zerstörung von Straßen und Infrastruktur in Gaza dauert der Zugang oft mehrere Tage. Berichten zufolge führen derzeit nur vier von 70 Organisationen, die vor der Eskalation in Gaza tätig waren, ihre Aktivitäten teilweise fort.
Deshalb werden seit drei Wochen die Forderungen – auch von IRC – zunehmend lauter, die Kampfhandlungen zu unterbrechen, damit Hilfe geleistet werden kann, Verletzte evakuiert werden können, Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln stattfinden und Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen werden können, um sie vor dem inakzeptablen Ausmaß der Zerstörung zu schützen. Diese Forderungen hört man unter verschiedenen Namen: Die US-Regierung, die Bundesregierung und andere Regierungen fordern „humanitäre Pausen“. Die Vereinten Nationen rufen zu einem „humanitären Waffenstillstand“ auf.
Doch welche Begriffe benutzt werden ist weniger wichtig als ihr Inhalt. Entscheidend ist, dass diese Begriffe eine konkrete Bedeutung bekommen. Das ist jedoch bisher nicht geschehen und veranlasst IRC zu diesem Statement.
Eine Unterbrechung der Kampfhandlungen muss auf bestimmte Art und Weise stattfinden, um Wirkung zu zeigen. Das umfasst in diesem Zusammenhang kontinuierliche Hilfslieferungen in deutlich ausgeweitetem Umfang, sicheres Geleit für humanitäre Helfer*innen und die Zivilbevölkerung sowie eine kontinuierliche Lieferung von Treibstoff, Wasser und Strom, um effektive Hilfsmaßnahmen zu ermöglichen. Dies wiederum erfordert Zugang zu allen Gebieten Gazas, die Mitwirkung aller Parteien, die Überwachung durch die Vereinten Nationen und eine schnellere, effizientere Kontrolle von Menschen und Gütern an der Grenze. Vor allem die Dauer ist jedoch entscheidend: Die Organisationen vor Ort haben deutlich gemacht, dass mit einer Pause von ein paar Stunden nichts Wesentliches erreicht werden kann.
Damit den Menschen wirklich geholfen werden kann, muss ein „humanitärer Waffenstillstand“ Folgendes beinhalten:
- Uneingeschränkte Lieferung von humanitären Hilfsgütern nach Gaza (aus Ägypten und Israel) unter der Aufsicht der UN, die unparteiisch von humanitären Organisationen geliefert werden. Dazu gehören Wasser, medizinische Versorgung, Lebensmittel, Gegenstände des täglichen Gebrauchs, sowie Unterkünfte, Hilfsgüter für Frauen und Mädchen und genügend Räumlichkeiten, um lebenswichtige Schutzmaßnahmen anbieten zu können. Diese Versorgung sollte ausschließlich auf dem festgestellten humanitären Bedarf basieren und nicht von den Kampfhandlungen beeinträchtigt werden – inklusive regelmäßige Treibstofflieferungen, die für die Verteilung der Hilfsgüter notwendig sind und gewährleisten, dass weiterhin lebenswichtige Unterstützung, insbesondere Gesundheitsversorgung, erbracht werden kann.
- Helfer*innen müssen Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, erst einmal erreichen können. Damit die Hilfe wirksam sein kann, müssen Helfer*innen Betroffene erst einmal erreichen können. Darüber hinaus müssen sie in der Lage sein, die Zweckentfremdung von Hilfsgütern zu verhindern und gewährleisten, dass die humanitäre Hilfe die Zivilbevölkerung erreicht.
- Die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und Sicherheit und das Zusammenkommen der Zivilbevölkerung, um humanitäre Hilfe und Versorgung zu erhalten (unter anderem geschützte Räume für Kinder, Bildungsaktivitäten, medizinische Notversorgung einschließlich psychologischer Versorgung und anderer spezialisierter Versorgung, zum Beispiel für Frauen und Mädchen).
- Die Evakuierung von Kranken und Verwundeten innerhalb des Gebiets oder aus dem Gebiet heraus sowie zusätzliche Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Übereinstimmung mit dem Humanitären Völkerrecht, einschließlich sicherer Routen für Zivilist*innen auf der Flucht. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass manche Menschen nicht über die erforderlichen Ausweisdokumente verfügen bzw. sie nicht bei sich führen. Die üblichen Wege sollten identifiziert und kommuniziert und vor Angriffen geschützt werden. In jedem Fall muss das Recht auf Rückkehr im Voraus garantiert werden.
- Aufmerksamkeit für die Notlage der Geiseln: IRC fordert im Einklang mit dem Humanitären Völkerrecht weiterhin die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln, sowie die sichere Einreise der freigelassenen Geiseln nach Israel.
- Ein Zeitraum, der lang genug ist, um zu ermöglichen, dass die Hilfe die Menschen erreicht, die Mechanismen der humanitären Hilfe und Versorgung wiederhergestellt und ausgeweitet werden können und die anderen genannten Maßnahmen umgesetzt werden können. Die Lage vor Ort zeigt, dass dazu mindestens fünf Tage benötigt werden.
Es muss klar sein, dass dieser Ansatz nur das Mindestmaß dessen erfüllt, um die unmittelbaren Bedarfe vor Ort zu decken, und weit davon entfernt ist, das Leid der Zivilbevölkerung zu verringern und ihre Interessen im Einklang mit dem Humanitären Völkerrecht zu schützen. Doch zurzeit wird auch dieses Mindestmaß nicht gewährleistet. Es ist unabdingbar, dass es so schnell wie möglich umgesetzt wird.
Dieser Konflikt hat neue Ausmaße des Grauens aufgezeigt. Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober war schrecklich und ist zu verurteilen. Die humanitäre Lage in Gaza zurzeit ist verheerend und verschlechtert sich rasant. Die Zivilbevölkerung trägt die Hauptlast dieses Konflikts und muss dringend geschützt werden.