Der Krieg in der Ukraine wirkt sich auf die weltweite Ernährungssicherheit aus: zusätzliche 47 Millionen Menschen könnten von akutem Hunger bedroht sein.
In Jemen sind über 19 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. 46% der Weizenimporte bezieht das Land aus der Ukraine oder Russland.
In der Sahelzone leiden über sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren an akuter Unterernährung. 30-50% der Weizenimporte stammen aus der Ukraine oder Russland.
Am Horn von Afrika sind bereits über 13 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht. Somalia könnte vom Konflikt in der Ukraine am stärksten betroffen sein, da es 92% des Weizens aus der Region einführt.
Berlin, 18. Mai 2022 — Der Krieg in der Ukraine wird im Jahr 2022 voraussichtlich 47 Millionen Menschen mehr als vor dem Konflikt (276 Millionen) in akute Hungersnot zwingen. Eine neue Analyse von International Rescue Committee (IRC) weist auf die Auswirkungen des Krieges und die Bedrohung der globalen Ernährungssicherheit in Krisengebieten hin.
Die G7-Außenminister*innen planen eine „Globale Allianz für Ernährungssicherheit”, die G7-Entwicklungsminister*innen tagen diese Woche dazu. Die verschiedenen Treffen der G7 und der Gipfel im Juni bieten die einzigartige Gelegenheit, entschieden gegen sich verschärfende Hungerkrisen weltweit vorzugehen.
Millionen von Menschen müssen ohne Nahrungsmittel und lebenswichtige Güter auskommen. Einige der Gründe sind die unzureichende Finanzierung durch Geberregierungen, Versorgungsengpässe mit Weizen und Brennstoffen sowie die politische Untätigkeit angesichts der Verstöße gegen die internationale Ordnung. Wenn nicht die richtigen politischen Entscheidungen getroffen und genügend Mittel für Hungerkrisen in der Sahelzone, Afghanistan, Jemen und dem Horn von Afrika bereitgestellt werden, wird dies unzählige Menschenleben kosten. So ist beispielsweise der „Humanitarian Response Plan” für Somalia nach wie vor deutlich unterfinanziert, obwohl mehr als sechs Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind. In Jemen wird sich die Zahl der hungerleidenden Menschen bis 2022 verfünffachen, trotzdem fehlen mehr als drei Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern.
- Die Sahelzone steht vor der schlimmsten Ernährungskrise seit einem Jahrzehnt: Im Juni 2022 werden 41 Millionen Menschen von akutem Hunger betroffen sein. Sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden an akuter Unterernährung. Zerstörte Lebensgrundlagen aufgrund von Konflikten, brachliegende Ackerflächen und Dürreperioden führen zu verringerter Nahrungsmittelproduktion. Verstärkt wird dies durch die 30-50% Abhängigkeit von Weizenimporten aus der Ukraine und Russland.
- Am Horn von Afrika herrschen die trockensten Bedingungen seit über 40 Jahren – und führen zur schlimmsten klimabedingten Notlage der jüngeren Geschichte. Mehr als 13 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit in Äthiopien, Kenia und Somalia bedroht. Somalia importiert 92% des Weizens allein aus der Ukraine, und könnte daher besonders betroffen sein.
- In Jemen sind 19,1 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das ist ein Anstieg um 2,9 Millionen im Vergleich zum Vorjahr. Das Land importiert über 90% seines Getreides, wobei fast die Hälfte des Weizens (46,3%) aus der Ukraine und Russland stammt.
- In Afghanistan sind 20 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. 6,6 Millionen davon stehen kurz vor der Hungersnot. Eine schwere Dürre hat die landwirtschaftliche Produktion zerstört, während COVID-19 die Beschäftigungsmöglichkeiten dezimiert hat. Beides verstärkt die jahrelange konfliktbedingte Armut und Vertreibung. Seit August 2021 beschleunigen Staatsversagen und wirtschaftlicher Zusammenbruch die landesweite Hungerkrise.
IRC betont in einem neuen Policy Briefing die Rolle der G7, um die weitere Verschärfung bestehender Hungerkrisen aufgrund des Ukraine-Kriegs zu verhindern und empfiehlt folgendes:
- Andere Krisen nicht vergessen, entsprechende Mittel zur Bekämpfung von Hunger bereitstellen: Erhöhung der verfügbaren Haushaltsmittel im Einklang mit dem Ziel, 0,7% des Bruttonationaleinkommens in internationale Hilfe zu investieren. Bestehende Finanzierungszusagen für humanitäre Krisen sollten eingehalten werden, indem UN-Hilfspläne für 2022 erfüllt und die Finanzierungslücken aufgrund der steigenden Nahrungsmittelpreise geschlossen werden. Auch humanitäre Organisationen, die von ukrainischen und russischen Nahrungsmittelimporten für die Hilfe abhängig sind, brauchen eine Vorfinanzierung.
- Bewährte Maßnahmen im Kampf gegen Ernährungsunsicherheit ausweiten, um die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs abzumildern: Die Unterstützung für langfristige und integrative Schutzprogramme und Sicherheitsnetze in Ländern, die von Fragilität, Konflikten und Vertreibung betroffen sind, sollte aufgestockt werden. Gefährdete Bevölkerungsgruppen müssen vor Preisspitzen geschützt sowie Programme zu Sozialschutz, Armutsbekämpfung und Ernährungssicherheit besser verknüpft werden.
- Fehler im globalen Lebensmittelsystem beheben: Die G7-Mitglieder sollten die Gründung einer „Allianz für globale Ernährungssicherheit” und eines „Globales Schutzschilds" gegen Klimarisiken vorantreiben, wie von Deutschland vorgeschlagen. In der Zusammenarbeit mit gefährdeten und betroffenen Ländern kann sichergestellt werden, das Bedarfe gedeckt werden. Vorrangig sind Investitionen in agrarökologische Ansätze, um die Abhängigkeit von Nahrungsmitteln zu verringern.
- Humanitäre Diplomatie stärken, Straflosigkeit beenden: Die G7-Mitglieder sollten ihr Engagement für das humanitäre Völkerrecht verstärken und dafür sorgen, dass Verstöße untersucht und geahndet werden. Die Staaten sollten die Aussetzung des Vetorechts im UN-Sicherheitsrat in Fällen von Massengrausamkeiten unterstützen, um auf die schwersten Krisen der Welt reagieren zu können.
Durch rasches und koordiniertes Handeln kann die G7 Leben retten, die Widerstandsfähigkeit der von der Krise betroffenen Gemeinden stärken und künftigen Schocks vorbeugen. Zu den vorrangigen Maßnahmen muss die Kombination von humanitärer Hilfe – mit dem Fokus auf Bargeldtransfer sowie geschlechts- und klimasensibler Maßnahmen zur Bekämpfung von Unterernährung und Ernährungssicherheit – mit präventiven Ansätzen und diplomatischen Bemühungen zur Gewährleistung des humanitären Zugangs und der Einhaltung des humanitären Völkerrechts gehören.
David Miliband, CEO und Präsident von International Rescue Committee, sagt:
„Der Krieg in der Ukraine verschärft die Ernährungsunsicherheit den ärmsten Ländern der Welt weiter. Millionen von Menschen sind bereits durch COVID-19, Konflikte und den Klimawandel an den Rand gedrängt, stehen nun vor den Augen der internationalen Geberregierungen vor einer Hungersnot.
Die G7-Minister*innen haben die einmalige Gelegenheit, sinnvoll und koordiniert auf diese beispiellose globale Hungerkrise zu reagieren - und damit Leben zu retten und künftigen Schocks vorzubeugen.
Der Krieg in der Ukraine stellt bereits den Höhepunkt in unserem globalen Zeitalter der Straflosigkeit dar. IRC hat davor gewarnt, dass das globale System zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Konfliktprävention und zur Deckung des wachsenden humanitären Bedarfs versagt. Das schlimmste Ergebnis wäre, wenn wir in den kommenden Wochen zusehen müssten, wie die Schwächsten der Welt den Preis mit ihrem Leben bezahlen."
Ralph Achenbach, Geschäftsführer von IRC Deutschland, sagt:
„41 Millionen in der Sahelzone und Westafrika, 13 Millionen am Horn von Afrika, 19 Millionen in Jemen, 20 Millionen in Afghanistan - mehr als 90 Millionen Menschen, ganze Familien, sind von Hunger bedroht. Das Ausmaß des humanitären Bedarfs könnte nicht deutlicher sein. IRC begrüßt die Initiativen der deutschen G7-Führung zur proaktiven Krisenbewältigung mit Vorschlägen für eine ‚Allianz für globale Ernährungssicherheit’ und einem ‚globalen Schutzschirm’ gegen Klimarisiken. Ernährungssicherheit ist als Kernthema im Koalitionsvertrag festgehalten. Die G7-Präsidentschaft bietet der Bundesregierung nun die einmalige Chance, die ‘Zeitenwende’ auch im Kampf gegen Hunger auf der globalen Bühne einzuleiten."
Hier finden Sie das IRC Policy Briefing mit Empfehlungen an die G7-Mitglieder zur Bewältigung der weltweiten Hungerkrise.