Berlin, 14. Dezember 2023 — Heute veröffentlicht International Rescue Committee (IRC) die jährliche Emergency Watchlist mit den 20 Ländern, in denen sich die humanitäre Lage im Jahr 2024 voraussichtlich am stärksten verschlimmern wird. Sudan, das besetzte palästinensische Gebiet und Südsudan stehen an der Spitze der Liste. In den 20 Ländern der Watchlist leben etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung. Gleichzeitig entfallen auf sie rund 86 Prozent des weltweiten humanitären Bedarfs.
Sudan steht dieses Jahr ganz oben auf der Emergency Watchlist. 2023 brachen dort Kämpfe aus. Die großflächige urbane Kriegsführung, die Gefahr, dass sich die Kämpfe auf andere Regionen ausbreiten und eine geringe internationale Aufmerksamkeit können dazu führen, dass sich die Lage 2024 noch dramatisch verschlechtert. In Sudan benötigen derzeit bereits 25 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Sechs Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben.
Das besetzte palästinensische Gebiet steht auf der diesjährigen Watchlist an zweiter Stelle. Zum Jahreswechsel gilt Gaza als der gefährlichste Ort für Zivilist*innen weltweit. Nach den schrecklichen Angriffen der Hamas am 7. Oktober folgten im besetzten palästinensischen Gebiet Bombardierungen von Krankenhäusern und weiterer Infrastruktur durch Israel, das den Zugang für humanitäre Hilfe verweigert. In Kombination mit den massiven Vertreibungen führt dies dazu, dass 2024 drei Millionen Menschen im besetzten palästinensischen Gebiet auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. IRC erwartet, dass der Bedarf noch weiter steigen wird, vor allem angesichts des drohenden Zusammenbruchs des Gesundheitssystems in Gaza.
Südsudan leidet weiterhin massiv unter den Auswirkungen des Konflikts in Sudan und des Klimawandels. Für das nächste Jahr werden erneut Überschwemmungen erwartet, ausgelöst durch das Extremwetterphänomen El-Niño. Der Krieg droht, die fragile Wirtschaft des Landes weiter zu destabilisieren. IRC rechnet zudem mit einem Anstieg der Gewalt im Vorfeld der für Dezember 2024 angesetzten ersten Wahlen des Landes.
Zum ersten Mal befinden sich acht der Top-10-Länder der Watchlist in Afrika. Heute gibt es in den afrikanischen Ländern der Watchlist fast mehr als doppelt so viele bewaffnete Gruppen wie 2010. In fast der Hälfte der Staaten kam es in den letzten fünf Jahren zu verfassungswidrigen Machtwechseln.
IRC-Präsident und CEO David Miliband sagt:
„Viele der Menschen, für die IRC arbeitet, erleben gerade ihre schlimmste Zeit. Die Watchlist spiegelt die Länder wider, in denen sich der humanitäre Bedarf weltweit bündelt. Das ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Klimarisiken, Straflosigkeit in Konfliktgebieten, eine steigende Zahl von Konflikten und wachsende Staatsverschuldung, während gleichzeitig die internationale Unterstützung abnimmt.
Die Schlagzeilen werden heute aus gutem Grund von der Krise in Gaza beherrscht: Gaza ist derzeit der gefährlichste Ort der Welt für Zivilist*innen. Dies spiegelt die Watchlist mit dem besetzten palästinensischen Gebiet auf Platz 2 wider. Aber die Liste erinnert uns auch daran, dass auch andere Teile der Welt in Flammen stehen, und zwar aus strukturellen Gründen, die mit Konflikten, dem Klimawandel und der Wirtschaftslage zusammenhängen. Wir müssen es schaffen, mehr als eine Krise auf einmal zu bewältigen.
Angesichts des zunehmenden Drucks auf allen Ebenen ist die Watchlist eine Warnung vor Apathie und Tatenlosigkeit. Es kursieren viele vermeintliche ,Antworten’ auf die Krisen, die einfach falsch sind. In der diesjährigen Watchlist decken wir eine Reihe solcher oft bequemer Mythen auf. Sie verstellen uns den Blick auf globale Krisen genauso wie auf mögliche Auswege aus ihnen. Hilfsgütertransporte allein sind nicht genug, humanitäre Helfer*innen und Zivilist*innen müssen sicher sein. Europa und die USA nehmen keinen überproportional hohen Anteil an Geflüchteten auf – die meisten befinden sich in viel einkommensschwächereren Ländern. Der Klimawandel ist kein Problem von morgen. Die Klimakrise findet in den Ländern der Watchlist schon heute statt.
Der Schwerpunkt unserer Empfehlungen ist, dass Staaten, die Zivilgesellschaft, multilaterale Organisationen und der Privatsektor einen neuen Ansatz verfolgen. Deshalb unterstreichen wir besonders eine neue Förderung für Klimaanpassung und die Stärkung von Frauen, eine neue Ausrichtung der Weltbank, die Menschen in den Mittelpunkt stellt, und neue Maßnahmen, um Straflosigkeit zu verhindern. Eine Debatte über diese Ideen ist dringend notwendig, und echte Antworten umso mehr.“
Corina Pfitzner, Geschäftsführerin IRC Deutschland, ergänzt:
„Die Welt blickt in die Ukraine und den Nahen Osten, doch: Laut IRC Emergency Watchlist liegen acht der zehn zu erwartenden schlimmsten humanitären Krisen 2024 auf dem afrikanischen Kontinent. Umso wichtiger ist es, die Zukunft des Engagements Deutschlands in Afrika zu sichern. In Mali und Niger hat die Bundesregierung zuletzt ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit pausiert. Humanitäre Hilfe bleibt oft das letzte Instrument, um Menschen in Not zu unterstützen.
Der nicht verabschiedete Haushalt für 2024 hemmt die Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung beträchtlich, da eingeplante humanitäre Mittel im Rahmen einer vorläufigen Haushaltsführung nur begrenzt abgerufen werden können (45 Prozent des Gesamtetats bei vorläufiger Haushaltsführung 2022): Neue Initiativen könnten nicht starten, die Bundesregierung könnte nur geringfügig auf die Verschärfung von Krisen reagieren und dringend benötigte Hilfe käme bei den Menschen vor Ort nicht oder nur in geringem Maße an – ob im Krieg in Sudan, in der Klimakrise in Südsudan oder der Hungersnot in Burkina Faso.
Wir fordern daher seitens des Finanzministeriums und des Bundestags Flexibilität, Sonderregelungen zuzustimmen, um für Hilfsorganisationen und ihre Arbeit in Krisenregionen Planungssicherheit und stabile Finanzierung zu wahren. In Zeiten schwerster menschlicher Not kann die deutsche globale Gestaltungsmacht nicht aufgrund einer Haushaltskrise gelähmt sein.”
IRC Emergency Watchlist 2024 im Überblick
Top 10 Platzierungen
- Sudan
- Besetztes palästinensisches Gebiet
- Südsudan
- Burkino Faso
- Myanmar
- Mali
- Somalia
- Niger
- Äthiopien
- Demokratische Republik Kongo
Weitere 10 Länder (ohne Reihenfolge)
- Afghanistan
- Zentralafrikanische Republik
- Tschad
- Ecuador
- Haiti
- Libanon
- Nigeria
- Syrien
- Ukraine
- Jemen
Zentrale Entwicklungen, Mythen & Empfehlungen
In den letzten zehn Jahren hat der Emergency Watchlist Bericht im Durchschnitt 85-95 Prozent der 20 Länder, in denen sich die Lage am meisten verschlechtert, korrekt vorhergesagt. Dies hilft IRC zu bestimmen, wo unsere Anstrengungen zur Notfallvorsorge liegen müssen. Die Watchlist basiert auf einem analytischen Verfahren, das 65 quantitative und qualitative Variablen sowie qualitative Erkenntnisse aus der Arbeit von IRC in mehr als 50 Ländern auf der ganzen Welt nutzt. Der vollständige Bericht findet sich hier.
Entwicklungen
Die IRC-Analyse zeigt mehrere zentrale Entwicklungen in allen Watchlist-Ländern auf, denen im kommenden Jahr unbedingt entegnet werden muss.
- Bewaffnete Konflikte und die Folgen des Klimawandels treffen zunehmend an denselben Orten und zur selben Zeit aufeinander. Der Anteil der Konflikte, die in klimaanfälligen Ländern stattfinden, ist in den letzten drei Jahrzehnten von 44 Prozent auf 67 Prozent gestiegen. Die Watchlist-Länder tragen weniger als zwei Prozent zu den weltweiten CO2-Emissionen bei, sind aber überproportional stark von der Klimakrise betroffen. In vielen vom Extremwetterphänomen El Niño betroffenen Ländern wird sich die Lage im nächsten Jahr noch verschärfen.
- Konflikte werden immer komplexer, internationaler und gewalttätiger. Die Zahl der bewaffneten Gruppen in den Watchlist-Ländern ist höher als je zuvor. Die Rolle regionaler oder globaler Mächte als Konflikttreiber wächst. 90 Prozent der Todesopfer in Konflikten sind Zivilist*innen. Konfliktparteien schränken den Zugang für humanitäre Hilfe ein und humanitäre Helfer*innen werden vermehrt Ziel der Gewalt, ohne dass Konfliktparteien diplomatische oder rechtliche Konsequenzen befürchten müssen.
- Die humanitäre Antwort auf Krisen droht unter der Last von Zugangs-, Ressourcen- und politischen Beschränkungen einzubrechen. Humanitäre Maßnahmen sind nach wie vor unterfinanziert. Der weltweite Anstieg von Staatsverschuldungen hindert Regierungen daran, wirksam auf humanitäre Krisen zu reagieren. Zwölf der 20 Länder auf der Watchlist befinden sich entweder bereits in einer Schuldenkrise oder haben ein mittleres bis hohes Risiko, in eine solche zu geraten.
Mythen
In diesem Jahr werden in der IRC-Watchlist fünf Mythen aufgedeckt, die zu Untätigkeit seitens der internationalen Gemeinschaft führen bzw. diese bestärken können:
- Der Zugang humanitärer Hilfe lässt sich allein an Hilfsgütertransporten messen.
- Ohne die Zusammenarbeit mit Regierungen lässt sich nichts erreichen.
- Die USA und Europa nehmen bereits mehr als ihren proportionalen Anteil an Geflüchteten auf.
- Die Senkung der CO2-Emissionen hat bei der Bewältigung der Klimakrise Vorrang vor der Anpassung an den Klimawandel.
- Geschlechtergleichstellung ist keine Frage von Leben oder Tod.
Handlungsempfehlungen von IRC
1. Leben retten in fragilen und von Konflikten betroffenen Staaten durch Maßnahmen zur Klimaanpassung, Resilienz und vorausschauendem Handeln.
- 50 Prozent der öffentlichen Klimafinanzierung für Entwicklungsländer sollten bis 2025 für die Anpassung an den Klimawandel bereitgestellt werden, wie auch vom Generalsekretär der Vereinten Nationen gefordert.
- 20 Prozent aller Multilateralen Entwicklungsbanken (MDB) und anderer multilateraler Klimafinanzierungen für von Konflikten und Klimawandel betroffene Länder sollten über Nichtregierungsorganisationen (NRO), einschließlich lokaler NRO und von Frauen geführter Organisationen, abgewickelt werden.
- Mindestens fünf Prozent der Finanzierung humanitärer Hilfe sollten für Maßnahmen vorausschauenden Handelns ausgegeben werden. Es sollte außerdem eine Strategie zur weiteren Ausweitung bis 2030 geben.
2. Extreme Armut und die Ursachen für steigende humanitäre Bedarfe angehen.
- Verbesserung der Fähigkeit der Weltbank, durch neue Partnerschaften in komplexen Notsituationen zu arbeiten.
- Stärkung von sozialen Sicherheitsnetzen und Bargeldmaßnahmen. Geber und Entwicklungsbanken sollten inklusive Sozialhilfemaßnahmen und Bargeldhilfen ausweiten und dabei den besonderen Schwerpunkt auf Afrika legen.
- Entwicklung eines neuen Mechanismus zur Vorhersage der Auswirkungen wirtschaftlicher Schocks auf den humanitären Bedarf und humanitäre Maßnahmen. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sollten im Rahmen des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) einen organisationsübergreifenden Mechanismus einrichten und finanzieren, der sich mit den humanitären Auswirkungen wirtschaftlicher Fragilität befasst.
3. Geschlechtergleichstellung in der Krisenreaktion priorisieren und von Frauen geführten Organisationen Entscheidungsgewalt und Ressourcen übertragen.
- Reformen für humanitäre Länderfonds beschleunigen.
- Bilaterale Geber sollten mehr humanitäre Mittel über feministische Fonds wie den Equality Fund und den Women Peace and Humanitarian Fund bereitstellen. Ansätze zu Compliance und Wissensaustausch für gleichberechtigte Partnerschaften mit von Frauen geführten Organisationen überarbeiten.
4. Förderung des Wohlstands für alle durch Aufstockung der Hilfe und Bewältigung der Schuldenkrise.
- Neue Investitionen in Klimaanpassung, humanitäre Hilfe und Armutsminderung: Das sind Maßnahmen, die nicht isoliert betrachtet werden können.
- IRC unterstreicht die Forderung an die Geberländer des OECD Development Assistance Committee (DAC), die Hälfte der gesamten bilateralen öffentlichen Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) für fragile und von Konflikten betroffene Staaten bereitzustellen.
- Die Geber sollten sich dafür aussprechen, die International Development Association (IDA21) massiv aufzustocken und die Finanzierung bis 2030 zu verdreifachen. Die Schuldenlast in den Watchlist-Ländern muss verringert werden, indem aktuelle und neue Ansätze zur Verringerung der Schuldenlast für die Gläubiger geprüft und ausgebaut werden, um Investitionen in humanitäre Maßnahmen, Klimaanpassung und sozialen Schutz zu stärken.
5. Unterstützung und Schutz von gewaltsam vertriebenen Menschen.
- Regierungen sollten bei der Gestaltung der Aufnahmeprozesse systematisch einen schutzorientierten Ansatz für eine menschenwürdige Aufnahme verfolgen, damit Asylsuchende Schutz und Zugang zu Dienstleistungen erhalten und die Staaten sichere und geordnete Abläufe an ihren Grenzen aufrechterhalten können und so der Druck auf die Asylsysteme verringert wird.
- Geber und Multilaterale Entwicklungsbanken (MDBs) müssen die Unterstützung von Initiativen vorantreiben, die echte Chancen auf Eigenständigkeit bieten. Wo nötig, sollten sich Geber und MDBs auch für politische und gesetzliche Änderungen einsetzen, einschließlich der Freizügigkeit und des Rechts auf Arbeit, um die Integration zu erleichtern und die Eigenständigkeit zu fördern.
- Es sollte planbare, mehrjährige Finanzierung eingesetzt werden, um humanitäre und entwicklungspolitische Maßnahmen zu unterstützen, die den Bedarfen der vertriebenen Menschen und ihrer Aufnahmegemeinden gerecht werden. Diese Bemühungen müssen auch die besonderen Bedarfe vertriebener Frauen berücksichtigen.
6. Straflosigkeit verhindern und das Humanitäre Völkerrecht durchsetzen
- Die gleichen Mechanismen, die von der Generalversammlung und dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sowie auf bilateraler Ebene als Reaktion auf den Überfall auf die Ukraine genehmigt wurden, auch für neue Krisen als Teil eines neuen „Rechenschaftsplans“ einsetzen.
- Die französisch-mexikanische Erklärung zur Aussetzung des Vetorechts in Fällen von Massenverbrechen unterstützen, wobei die Definition von Massenverbrechen durch ein unabhängiges und neutrales Gremium erfolgt, welches von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einberufen wird.
- Eine neue Independent Access Organization (IAO) gründen, um die Berichterstattung über den humanitären Zugang zu verbessern, das Bewusstsein für dessen Auswirkungen zu stärken und Handeln auf globaler, regionaler und nationaler Ebene durch politische Entscheidungstragende zu fördern.