Berlin, 23. Februar 2025 — Nach den Bundestagswahlen und angesichts der bevorstehenden Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen fordert International Rescue Committee (IRC) Deutschland alle Beteiligten dazu auf, sowohl globale humanitäre Hilfsverpflichtungen als auch die Aufnahme und Teilhabe von Geflüchteten in Deutschland entschieden zu fördern. Bei der unweigerlichen Kompromisssuche zwischen möglichen Koalitionspartnern muss die Zukunft von Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung sowie die humanitäre Lage in Krisenregionen eine zentrale Rolle spielen.
Im Forderungspapier „Zukunft gestalten: Engagement für Menschen in Krisenregionen, auf der Flucht und in Deutschland” adressiert IRC die Rolle Deutschlands in drei Bereichen: 1) globale humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, 2) Asyl, Aufnahmeprogramme und europäische Verantwortung sowie 3) Unterstützung und Teilhabe von Menschen mit Fluchterfahrung in Deutschland, und spricht konkrete Empfehlungen für eine neue Regierung hierzu aus.
Corina Pfitzner, Geschäftsführerin IRC Deutschland, sagt:
„Wir erleben ein gefährliches globales Phänomen in Echtzeit: Obwohl sich Krisen multiplizieren, humanitäre Bedarfe steigen und die Armutsbewältigung stagniert, nimmt das Engagement multilateraler Mächte ab. Geber ziehen sich zurück und transatlantische Beziehungen stehen vor der Zerreißprobe. Schrumpfende Budgets für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit verkennen die Verzahnung von Krisen, Konflikt und Klimawandel auf der einen und Stabilität, menschlicher Sicherheit und wirtschaftlichem Wachstum auf der anderen Seite.
Die nächste Bundesregierung kann durch die richtige Priorisierung ihres internationalen Engagements nicht nur einen positiven Einfluss auf das Leben von Millionen Menschen haben, sondern auch ein wichtiges Signal für die fortgesetzte Übernahme globaler Verantwortung setzen. Mit Blick auf den Gesamthaushalt sind die dafür benötigten Beträge nicht viel: 2024 entsprach der deutsche Etat für Humanitäre Hilfe 0,46 Prozent des Gesamthaushalts. Das heißt, für jeden Euro, den die Bundesregierung 2024 ausgab, flossen weniger als 0,5 Cent in humanitäre Hilfe. Um der klaffenden Lücke durch den Rückzug der USA etwas entgegenzusetzen, ist es umso wichtiger, dass Geber wie Deutschland das UN-Ziel erfüllen, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Hier gilt es insbesondere auf fragile Kontexte zu schauen.
Um zukünftig globale Politik federführend mitzugestalten, darf die neue Bundesregierung niemals vergessen: Es braucht mehr Hilfe, nicht weniger.. Deutschland hat nicht nur die moralische Verantwortung, die vulnerabelsten Menschen der Welt zu unterstützen, sondern auch die Pflicht, sich für weltweite Stabilität und Entwicklung einzusetzen – als Investition in unser aller Zukunft.“
Lisa Küchenhoff, Gesamtleitung Deutsche Programme, IRC Deutschland, ergänzt:
„Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ein Viertel der Menschen im Land hat eine Einwanderungsgeschichte; bei Kindern sind es sogar noch deutlich mehr. In vielen städtischen und ländlichen Regionen ist diese Vielfalt bereits gelebter Alltag – in Nachbarschaften und Büros, auf Elternabenden und Spielplätzen, im Sportverein und beim politischen Engagement. Das sehen wir täglich bei unserer Programmarbeit. Nun ist es an der neuen Bundesregierung, diese Normalität positiv zu gestalten und zu fördern, statt abzuschotten, auszuschließen und zu spalten.
Deutschland ist insbesondere in den letzten zehn Jahren zu einem Zufluchtsort und Schutzraum für viele Millionen Menschen geworden, die aufgrund von Krieg und Gewalt ihre Heimat verlassen mussten. Achtzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem durch deutsche Taten Millionen von Menschen verfolgt und vertrieben wurden und ihr Leben verloren haben, ist dies eine enorme Errungenschaft, die es zu bewahren gilt. Die neue Bundesregierung muss dazu beitragen, dass Deutschland sich weiterhin durch Offenheit, Menschlichkeit und Verantwortung auszeichnet.
Dafür gibt es erprobte und bewährte Lösungsansätze, die sowohl politische Steuerung als auch Schutz und Teilhabe ermöglichen: Humanitäre Aufnahmeprogramme können einen gut planbaren Weg aus Krisenregionen nach Deutschland ermöglichen – und Menschenleben retten. Die schnellere Erlaubnis zum Arbeiten und die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse kann den Weg in den Arbeitsmarkt beschleunigen – und zu finanzieller Unabhängigkeit führen. Vereinfachter und beschleunigter Familiennachzug kann die psychische Belastung von Menschen mit Fluchtgeschichte reduzieren – und ihr Ankommen erleichtern. Asyl und Einwanderung sind keine Krise in Deutschland. Im Gegenteil: Sie sind Ausdruck unserer Werte und Teil unserer Zukunft.”
Um die Zukunft für Menschen in Krisenregionen, auf der Flucht oder in Deutschland nachhaltig zu gestalten, fordert IRC im Papier „Zukunft gestalten: Engagement für Menschen in Krisenregionen, auf der Flucht und in Deutschland" die neue Bundesregierung dazu auf:
- Globale Rechenschaftspflicht stärken und humanitäre Zugänge schützen: Alle verfügbaren Mittel nutzen, um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts durchzusetzen, einschließlich des Aussetzens von Waffenexporten in Regionen, in denen das humanitäre Völkerrecht verletzt wird. Zudem sollte die Bundesregierung ihre Expertise und ihr Engagement in der humanitären Diplomatie ausbauen.
- Klimafinanzierung und innovative Ansätze in fragilen Krisenkontexten: Die internationale Klimafinanzierung signifikant erhöhen und für Menschen in klimagefährdeten und konfliktbetroffenen Ländern gerecht umsetzen, sowie sichere Aufnahmewege für durch den Klimawandel vertriebene Menschen schaffen.
- Humanitäre Hilfe und Entwicklungspolitik in fragilen Krisenkontexten: Weiterhin das 0,7-Prozent-Finanzierungsziel einhalten, kosteneffiziente und qualitativ hochwertige humanitäre Hilfe und Entwicklungsfinanzierung bereitstellen, die den Bedarfen von Gemeinschaften in fragilen Krisenkontexte sowie marginalisierter Gruppen gerecht wird.
- Stärkung und Teilhabe von Frauen und marginalisierten Gruppen: Feministische Ansätze in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit konsequent umsetzen, lokale Frauenrechtsorganisationen stärker unterstützen und deren Finanzierung ausbauen. Zudem sollte in Deutschland die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund durch mehr Repräsentation und eine Wahlrechtsreform gestärkt werden.
- Humanitäre Aufnahme, geregelte Zufluchtswege und Familiennachzug: Humanitäre Visa, Aufnahmeprogramme und das Resettlement-Programm ausbauen und so besonders schutzbedürftigen und individuell verfolgten Menschen einen sichereren Zugangsweg nach Deutschland ermöglichen. Die Verfahren sollten, ebenso wie der Familiennachzug, transparenter und effizienter gestaltet werden.
- Recht auf Asyl und Umsetzung der GEAS-Reform: Den Zugang zum Asylverfahren gewährleisten und Geflüchteten eine Verfestigung ihres Aufenthalts ermöglichen. In diesem Sinne sollte die GEAS-Reform menschenrechtskonform umgesetzt und ein angemessener Solidaritätsbeitrag geleistet werden, um Aufnahmestrukturen in den Erstankunftsländern zu entlasten. Migrationsabkommen sollten stets an die Einhaltung von menschenrechtlichen Standards geknüpft werden.
- Teilhabe in frühkindlicher und schulischer Bildung: Den Zugang zu qualitativ hochwertiger und diskriminierungsfreier Bildung für geflüchtete Kinder ab ihrer Ankunft in Deutschland sicherstellen. Dies beinhaltet den Abbau von Zugangsbarrieren zu Betreuungsplätzen, die Sensibilisierung pädagogischer Fachkräfte für Diversität und die Bereitstellung von Betreuungsplätzen außerhalb von Unterbringungseinrichtungen.
- Arbeitsmarktintegration: Binnen drei Monaten Arbeitserlaubnisse für alle Schutzsuchenden ausstellen, die Anerkennung von beruflichen Kompetenzen beschleunigen und Angebote für Sprachkurse ausbauen. Zur Beschäftigung und Ausbildung dieser Zielgruppen müssen Arbeitgebende unterstützt werden.
- Schutz vor Menschenhandel: Menschenhandel präventiv entgegentreten sowie betroffenen Geflüchteten ein sicheres Umfeld in Deutschland ermöglichen. Dies schließt die verbesserte Identifizierung von Opfern aus Drittstaaten, die Beseitigung von Sicherheitsmängeln im Hilfesystem und die Einhaltung internationaler Verpflichtungen ein.