29. Februar 2024 — Im Anschluss an die dieswöchige Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UN) zur Gefahr einer konfliktbedingten Hungersnot in Gaza fordern International Rescue Committee (IRC) und Medical Aid for Palestinians (MAP) dringend internationale Maßnahmen. Die Unterernährung in Gaza hat ein kritisches Niveau erreicht:
- Am 5. Januar 2024 warnten MAP und IRC, dass die Ärzt*innen unseres medizinischen Notfallteams in Gaza bei Kindern und Erwachsenen Anzeichen für schwere Unterernährung feststellen.
- Die gesamte Bevölkerung von mehr als zwei Millionen Palästinenser*innen ist von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. In Gaza leiden circa 576.000 Menschen an „katastrophalem Hunger” (IPC 5), der schwersten Phase der akuten Ernährungsunsicherheit, die durch Hunger und akute Unterernährung gekennzeichnet ist. Berichten zufolge sterben Palästinenser*innen im Gazastreifen bereits an den Folgen des Hungers.
- Die UN berichten, dass sich der Ernährungszustand der Bevölkerung in einem weltweit noch nie dagewesenen Tempo verschlechtert. Kinder in Gaza verhungern so schnell wie nie zuvor.
- WHO-Expert*innen haben festgestellt, dass eines von sechs Kindern unter zwei Jahren im Norden Gazas akut unterernährt ist.
- 90% der Kinder unter fünf Jahren in Gaza leiden an einer Infektionskrankheit.
- In den nächsten sechs Monaten werden in Gaza 58.000 zusätzliche Tote prognostiziert, wenn es keinen Waffenstillstand gibt. Die Verbreitung von Infektionskrankheiten wird die Haupttodesursache sein.
Aufgrund des Mangels an Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten ist die gesamte Bevölkerung Gazas, mehr als 2,2 Millionen Menschen, von einer unsicheren Ernährungslage betroffen. Diese hat mindestens das Niveau einer Krise erreicht. Mindestens einer von vier Haushalten, mehr als eine halbe Million Menschen, ist von katastrophalen Bedingungen oder einer Hungersnot bedroht – wobei diese Prognose als konservativ eingestuft wird. Nach Angaben der UN wurden zuletzt am 23. Januar Lebensmittel in den Norden Gazas geliefert. Die Menschen überleben Tag für Tag mit fast nichts zu essen.
Bäckereien in Gaza können aufgrund von Schäden und dem Mangel an Strom, Treibstoff, Wasser und Weizen kaum Brot backen Der Landwirtschaftssektor, der von entscheidender Bedeutung für frische Produkte ist und die Lücke der kommerziellen Lebensmittelimporte schließt, wurde durch die anhaltenden Feindseligkeiten und die verschärfte Blockade erheblich geschädigt. Die Fischereiindustrie des Gazastreifens ist aufgrund von Luftangriffen und der Angst, auf See angegriffen zu werden, ebenfalls lahmgelegt. Infolgedessen sind die Preise in die Höhe geschossen, da weniger Lebensmittel zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sind die finanziellen Möglichkeiten, Lebensmittel und andere Güter zu beschaffen, aufgrund des Konflikts zurückgegangen.
Mahmoud Shalabi, leitender Programmmanager von MAP im Norden Gazas, sagt:
„Es gibt nichts mehr auf dem Markt. Die Menschen mahlen Tierfutter und mischen es mit dem wenigen verfügbaren Mehl, um daraus Brot für ihre Kinder zu backen. Die Qualität dieses Brotes ist unglaublich schlecht. Sogar das Tierfutter wird jetzt auf dem Markt knapp.
Die Kinder gehen mit ihren Tellern, leeren Töpfen und Löffeln auf die Straße und schreien, dass sie etwas essen wollen. Wenn die Situation so weitergeht, befürchte ich das Schlimmste: noch mehr Menschen werden verhungern. MAP ist eine der wenigen internationalen Hilfsorganisationen, die im Norden des Landes tätig sind, aber die Not ist im Moment größer denn je."
Bob Kitchen, IRC-Vizepräsident für Nothilfe, sagt:
„Die totale Belagerung und wahllosen Bombardierungen Israels dauern nun schon mehr als 140 Tage an. Nahrungsmittel und sauberes Wasser sind unglaublich knapp geworden. Hunderttausende stehen vor dem Hungertod. Krankheiten sind weit verbreitet und werden, wenn nicht unter Kontrolle gebracht, zu Zehntausenden völlig vermeidbaren Todesfällen führen. Wenn sie die katastrophale Ernährungsunsicherheit überleben, werden Kinder für den Rest ihres Lebens mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben.
Die große Mehrheit der Hilfskonvois auf dem Weg in den Norden Gazas wurde vom israelischen Militär abgewiesen oder angegriffen. Da die gesamte Bevölkerung von einer tödlichen Kombination aus Bombardierung, Krankheit und Hunger bedroht ist, bekräftigen wir die dringende Notwendigkeit eines sofortigen Waffenstillstands in ganz Gaza und eines sofortigen humanitären Zugangs über alle möglichen Wege, um den bestehenden Bedarf zu decken. Die Krise geht nun in den sechsten Monat – nie war es dringlicher, die Kämpfe zu beenden.”
Schon vor dem 7. Oktober 2023 befand sich Gaza aufgrund der seit 17 Jahren andauernden israelischen Abriegelung und Blockade mitten in einer humanitären Krise. Das Internationale Rote Kreuz stuft diese als unrechtmäßige „kollektive Bestrafung" der Zivilbevölkerung ein. Etwa 80% der Bevölkerung waren bereits auf humanitäre Hilfe angewiesen, 64% der Bevölkerung litten unter Nahrungsmittelknappheit.
Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention verbietet die kollektive Bestrafung von Zivilist*innen. Als Besatzungsmacht in Gaza hat Israel die Verantwortung, die besetzte Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern zu versorgen. Die willkürliche Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe und der Entzug von überlebenswichtigen Gütern kann eine Verletzung des humanitären Völkerrechts darstellen, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Lieferung und Zugang zu Hilfsgütern.
In Anbetracht dieser schwerwiegenden Bedenken fordern IRC und MAP die internationale Gemeinschaft auf:
- Dringend auf einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand in Gaza hinzuwirken. Dies ist die einzige Möglichkeit, das Leben der Zivilbevölkerung in Gaza nachhaltig zu schützen.
- Dringenden Druck auf Israel auszuüben, damit Israel den Verpflichtungen des humanitären Völkerrecht nachkommt, die totale Abriegelung Gazas aufhebt und die Grenzübergänge, einschließlich Karni und Erez im Norden, wieder öffnet sowie den sicheren und ungehinderten Transport von humanitärer Hilfe (einschließlich Treibstoff, Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern) und von Hilfskräften, medizinischem Personal, Kranken und Verwundeten ermöglicht.
- Auf die Reaktivierung grundlegender Dienstleistungen in Gaza hinzuwirken, einschließlich grenzüberschreitender Wasser- und Stromleitungen, die Wiederaufnahme des kommerziellen Warenverkehrs und der internen Produktion von frischen, nahrhaften Lebensmitteln. Eine Aufstockung der humanitären Hilfe allein wird die Hungersnot nicht abwenden. Handel sollte wieder auf das Niveau von vor Oktober 2023 gebracht werden.
- Alle Parteien zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts aufzufordern, was auch das Aushungern von Zivilist*innen als Methode der Kriegsführung verbietet. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs sieht vor, dass die „Vorenthaltung von Gegenständen, die für ihr [Zivilist*innen] Überleben unerlässlich sind, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen", ein Kriegsverbrechen ist.
- Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) der Zivilbevölkerung vor Gräueltaten zu stärken, bevor es zu spät ist. Es besteht nach wie vor die reale Gefahr einer Massenvertreibung von Palästinenser*innen aus Gaza nach Ägypten, und UN-Menschenrechtsexpert*innen warnen vor einem „Völkermord in der Entstehung".
- Die Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der humanitären Krise massiv aufzustocken und zusätzliche Mittel für den unmittelbaren bis langfristigen Bedarf bereitzustellen, mit dem Ziel Agrar- und Ernährungssysteme wiederherzustellen, einschließlich Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei.
Im Gazastreifen haben International Rescue Committee (IRC) und Medical Aid for Palestinians (MAP) medizinische Notfallteams eingesetzt, um lebensrettende medizinische Soforthilfe zu leisten. Das Team, das sich aus Traumaärzt*innen, Chirurgen, Kinderärzt*innen und Expert*innen für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zusammensetzt, unterstützt Krankenhäuser und bietet verletzten Palästinenser*innen lebensrettende medizinische Versorgung.