Fast 500* Kinder wurden in den vergangenen sechs Monaten in libyschen Internierungslagern festgehalten. Wie Daten der Hilfsorganisation International Rescue Committe (IRC) zeigen, wurden zwischen März und September 2020 insgesamt mehr als 5.800 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurück nach Libyen gebracht. Dort wurden sie – darunter 19 schwangere Frauen sowie die mehreren hundert Kinder – in Internierungslager gebracht.

IRC-Mitarbeitende melden einen alarmierenden Anstieg an inhaftierten Geflüchteten in Libyen. In einem Internierungslager in Tripolis stieg die Zahl der Gefangenen in den letzten beiden Septemberwochen von 23 auf über 1.000. Das Lager ist jedoch nur auf die Versorgung von 150 Menschen pro Tag ausgelegt.

Da die bestätigten COVID-19-Fälle in Libyen bis September um fast 150 Prozent gestiegen sind und nach wie vor weiter steigen, warnt IRC vor einer weiteren Ausbreitung der Krankheit.

Tom Garofalo, IRC-Landesdirektor in Libyen, erklärt:

„Wenn Menschen auf dem Meer abgefangen und nach Libyen zurückgebracht werden, brauchen sie dringend Unterstützung. Viele waren tagelang unterwegs und sind ernsthaft dehydriert. Viele haben aufgrund der Sonneneinstrahlung Verbrennungen erlitten und sind Zeuge des Todes von Mitreisenden geworden. Für Kinder ist dies eine zutiefst erschütternde Erfahrung. Wenn sie zurückgebracht werden, brauchen sie nicht nur medizinische Versorgung, damit ihre Wunden behandelt werden können. Sie brauchen auch psychologische Unterstützung, damit sie mit dem, was sie gesehen und erlebt haben, besser fertig werden können.“

„Die Überlebenden haben traumatische Erlebnisse gehabt: Viele von ihnen wurden vergewaltigt, gefoltert, geschlagen, inhaftiert und weiter misshandelt – teilweise auch mehrfach. Es sind auch diese Erlebnisse, die sie dazu treiben, die Überfahrt nach Europa zu wagen. Menschen, die bereits in einem so zerbrechlichen Zustand sind, dann auch noch in überfüllte, unhygienische Haftanstalten zu schicken, ist generell schlimm. Während einer Pandemie, in der die Einhaltung von Abstandsregeln sowie die Ausübung grundlegender Hygienepraktiken so immens wichtig sind, ist es noch verwerflicher. Das muss sofort beendet werden. Dazu muss alles versucht werden, um sicherzustellen, dass sowohl die neu Inhaftierten als auch diejenigen, die seit Monaten - wenn nicht gar Jahren - in Haft sind, an einem sicheren Ort leben können und Unterstützung erhalten, um sich eine neue Perspektive aufzubauen.“

Im Januar 2020 verpflichteten sich die Konfliktparteien in Berlin, auf willkürliche Inhaftierung zu verzichten und schrittweise die Schließung der Internierungslager einzuleiten. Auf einer Folgekonferenz in dieser Woche stellte der UN-Generalsekretär jedoch fest, dass diese Zusagen nicht eingehalten wurden. IRC fordert deshalb erneut ein sofortiges Ende der willkürlichen Inhaftierung. Geflüchtete und Migrant*innen, die nach Libyen zurückgebracht werden, müssen sämtliche notwendige medizinische Versorgung und emotionale Unterstützung erhalten. Darüber hinaus müssen COVID-Testkapazitäten landesweit aufgestockt und der Zugang zu Gesundheits- und Schutzdiensten für Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende ausgeweitet werden.

Für weitere Informationen oder zur Vereinbarung von Interviews wenden Sie sich bitte an

Meike Giordono-Scholz: [email protected] oder

Kirsty Cameron: [email protected]

 

Hinweise für Redakteure

IRC unterstützte insgesamt 465 Kinder, die auf See abgefangen und zwischen März und September 2020 nach Libyen zurückgebracht wurden. Diese Daten wurden von den Gesundheits- und Schutzteams von IRC gesammelt, die den Rückkehrern lediglich eine medizinische Notfallversorgung und limitierte Grundversorgung zur Verfügung stellen dürfen, bevor diese dann in die Haftanstalten gebracht werden.

Am 1. März begann IRC an den libyschen Ausschiffungspunkten Unterstützung für Rückkehrer*innen anzubieten. Seitdem wurden 55 Boote zurückgebracht und 5.866 Menschen – darunter Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende – an Land gebracht.

 

Über IRC

Seit August 2016 bietet IRC in Westlibyen Notversorgung und Dienste zur reproduktiven Gesundheit an. IRC ist eine der wenigen internationalen Organisationen, die mit zwei Büros in Tripolis und Misrata direkt in Libyen präsent ist. IRC unterstützt die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie mit der Ausbildung von Gesundheitspersonal und der Bereitstellung zusätzlicher Isolationseinheiten. Das medizinische Personal von IRC gehört zu den fünf Krisenreaktionsteams, die das libysche Gesundheitsministerium eingerichtet hat, um erste Bewertungen von Verdachtsfällen und die Rückverfolgung ihrer Kontakte durchführen zu können. Da die meisten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen in Tripolis und Misrata aus Kapazitätsgründen geschlossen wurden, ist die mobile Unterstützung durch IRC unerlässlich bei der Bekämpfung einer weiteren COVID-19-Ausbreitung geworden.

Seit Beginn des COVID-19-Ausbruchs in Libyen erhielt IRC zudem Zugang zu einigen libyschen Internierungslagern sowie drei Ausschiffungspunkten im Westen des Landes, wo IRC-Teams die Menschen nun mit lebensrettender medizinischer Versorgung unterstützen. IRC ist weiterhin in Misrata präsent, wo Gesundheits- und Schutzdienste für Geflüchtete, die über den Notfalltransitmechanismus (ETM) nach Niger/Ruanda umgesiedelt werden sollen, bereitgestellt werden. IRC konzentriert sich in Libyen auf folgende Schwerpunkte: Bereitstellung kritischer medizinischer Versorgung an schwer zugänglichen Orten im Westen Libyens; Versorgung von Kliniken zur gesundheitlichen Basisversorgung mit lebensrettenden Medikamenten, Renovierung von Gesundheitseinrichtungen, die während des gewaltsamen Konflikts beschädigt wurden; Einsatz erfahrener Sozialarbeiter*innen für das Fallmanagement und die psychosoziale Unterstützung in den vom Konflikt betroffenen Gemeinden.

International Rescue Committee (IRC) ist eine internationale Hilfsorganisation, die 1933 auf Anregung von Albert Einstein gegründet wurde. Seitdem unterstützt IRC Menschen, die vor politischen Krisen, Krieg, Verfolgung oder Naturkatastrophen fliehen müssen. Seit 2016 ist IRC in Deutschland  präsent. Mehr als 90 Mitarbeiter*innen engagieren sich hier inzwischen mit Unterstützung deutscher und europäischer Geber in Projekten für von Krisen betroffene Menschen weltweit. In Deutschland selbst führt IRC in allen Bundesländern Programme zur Integration schutzsuchender Menschen in den Bereichen Bildung, wirtschaftliche Integration sowie Schutz und Teilhabe durch.