Berlin, 27. Januar 2025 — Heute veröffentlichte die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ des deutschen Bundestages ihren Abschlussbericht mit Empfehlungen für den zukünftigen deutschen Beitrag zum internationalen Krisenmanagement. International Rescue Committee (IRC) begrüßt, dass die Enquete Kommission sich intensiv mit dem Engagement der deutschen Bundesregierung in Afghanistan auseinandergesetzt hat und hieraus zentrale Handlungsempfehlungen für das zukünftige Auslandsengagement Deutschlands ableitet.
Das deutsche Engagement der Bundesregierung in Afghanistan musste nach dem ungeordneten Abzug der Bundeswehr als Teil der internationalen Truppen mit katastrophalen Auswirkungen für die afghanische Zivilbevölkerung zu Recht einer Prüfung unterzogen werden. Aber auch für Krisenkontexte wo die Bundeswehr nicht vor Ort ist trägt Deutschland als reiche Wirtschaftsnation und zweitgrößter Geber für humanitäre Hilfe eine große Verantwortung. Die Bundesregierung muss weiterhin ihre humanitäre Hilfsbemühungen und entwicklungspolitisches Engagement in fragilen Kontexten wie Afghanistan ausbauen und reformieren.
Unabhängig davon, ob und wie sich außenpolitische Schwerpunkte verlagern, sollte die Bundesregierung Menschen in Krisenregionen basierend auf den humanitären Prinzipien unterstützen. Wie das gelingen kann, zeigt das IRC Forderungspapier mit Empfehlungen für das innen- und außenpolitische Handeln der Bundesregierung1, um die Zukunft für Menschen in Krisenregionen, auf der Flucht oder in Deutschland nachhaltig zu gestalten.
Um die menschliche Sicherheit im Mittelpunkt des internationalen Engagements zu halten, stellt IRC folgende Forderungen an die neue deutsche Bundesregierung:
- Sicherheitspolitische Interessen dürfen humanitäre Hilfe nicht behindern: Die Prinzipien der Unparteilichkeit und Neutralität, der humanitäre Organisationen verpflichtet sind, und die ihre erfolgreiche Umsetzung bedingt, dürfen nicht untergraben werden. Humanitäre Hilfe darf nicht instrumentalisiert werden, um Migrations- oder Sicherheitsziele zu erreichen. Nur wenn wir diese Prinzipien wahren, können wir sicherstellen, dass die Hilfe die betroffenen Menschen erreicht – insbesondere in Kontexten mit nicht-legitimierten, nicht-staatlichen, bewaffneten Autoritäten wie in Afghanistan.
- Die Bundesregierung sollte humanitäre Diplomatie nutzen und mit den jeweiligen Autoritäten über humanitäre Zugänge verhandeln: In der humanitären Strategie erkennt das Auswärtige Amt diese Verantwortung an. Dabei müssen auch schwierige und international nicht-legitimierte Gesprächspartner beachtet und das Engagement weiter ausgebaut werden. Nichtregierungsorganisationen müssen auch – ergänzend zu den Vereinten Nationen (UN) – bei Zugangsverhandlungen gestärkt werden.
- Das Auswärtige Amt und BMZ müssen den „Nexus-Chapeau“-Ansatz weiter ausbauen: Humanitäre Nothilfe entfaltet ihre größte Wirkung, wenn sie mit Projekten zur Förderung von Resilienz und Frieden verbunden ist. Die Koordinierung zwischen den einzelnen Ministerien sollte noch enger und Fachpersonal gestärkt werden. In Kontexten mit international nicht-legitimierten Autoritäten sollte dort, wo es entsprechende Bedarfe gibt, aber eine staatliche Zusammenarbeit ausgeschlossen wird, die regierungsferne Entwicklungszusammenarbeit gestärkt werden.2
- Schutzverantwortung fortsetzen: Bei einem Abzug sollte klar geplant werden, welche Personengruppen besonders gefährdet sind und welche Schutzmaßnahmen bereitgestellt werden müssen. Hier ist eine enge Zusammenarbeit mit NGOs unerlässlich - das hat sich auch im Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan bewährt.
- Lokaler Partnerschaften durch finanzielle Unterstützung, Kapazitätsaufbau, Netzwerkbildung, partizipative Ansätze und langfristigen Beziehungsaufbau fördern: Ein besonderer Fokus muss dabei auf die Unterstützung von Frauen, Mädchen und anderen marginalisierten Gruppen liegen, um ihre Rechte zu stärken und ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verbessern. Nur so können wir sicherstellen, dass in der Zusammenarbeit von staatlichen Akteuren und der Zivilgesellschaft humanitäre Bemühungen nachhaltig und effektiv sind.
Corina Pfitzner, Geschäftsführerin IRC Deutschland, kommentiert:
„Die Ergebnisse des Berichts der Enquete-Kommission Afghanistan unterstreichen die dringende Notwendigkeit, das Auslandsengagement der Bundesregierung zu reformieren und weiter auszubauen. Der Bericht hebt die Bedeutung eines integrierten Ansatzes hervor, der eine bessere Abstimmung zwischen den beteiligten Ressorts erfordert. Wir begrüßen, dass eine engere Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen gefordert wird.
Denn eins muss klar sein: Bei allen sicherheitspolitischen Prioritäten dürfen staatliche Interessen die humanitäre Hilfe nicht behindern. Die Prinzipien der Unparteilichkeit und Neutralität sowie der Zugang zur betroffenen Bevölkerung werden immer unser Leitmotiv sein.
Es ist begrüßenswert, dass die Bundesregierung die Enquete-Kommission ins Leben gerufen hat, um Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen. Denn wir wissen, dass strategische Mängel und eine fehlende kohärente Strategie den Afghanistan-Einsatzes erschwert haben. Die Bundesregierung muss aus diesen Erfahrungen lernen und, wie im Bericht verankert, sicherstellen, dass zukünftige Einsätze besser geplant, koordiniert und mit realistischen Zielen verbunden sind.
Wie die Bundesregierung wiederholt humanitär und völkerrechtlich zugesagt hat, ist und bleibt es unsere Pflicht, die Menschen in Afghanistan schnell und unbürokratisch zu unterstützen. Auch wenn das politische Interesse an Afghanistan nach dem Ende der Enquete-Kommission und des parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Bundestag abnehmen könnte, dürfen wir die Menschen in Afghanistan nicht vergessen.”
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2 Projekte können über internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und natürlich lokale Organisationen implementiert werden. Letztere sollten gerade in restriktiven Kontexten wie Afghanistan besonders unterstützt werden.