Berlin, 5. April 2022 — Westafrika leidet unter der schlimmsten Nahrungsmittelkrise seit zehn Jahren: 27 Millionen Menschen hungern bereits. Diese Zahl könnte im Juni dieses Jahres auf 38 Millionen ansteigen - ein neuer historischer Höchststand und bereits ein Anstieg um mehr als ein Drittel im Vergleich zum letzten Jahr. Elf internationale Hilfsorganisationen sprechen diese Warnung als Reaktion auf aktuelle Analysen des Cadre Harmonisé aus und rufen die Staatengemeinschaft dazu auf, umgehend Hilfen bereitzustellen, um die Krise zu entschärfen und den vermeidbaren Tod vieler Kinder zu verhindern. Im Rahmen einer von der Europäischen Union und dem Sahel- und Westafrika-Club organisierten virtuellen Konferenz wird morgen (Mittwoch, 6. April) über die Nahrungsmittel- und Ernährungskrise in der Sahelzone und am Tschadsee beraten.
In den letzten zehn Jahren haben die Ernährungskrisen in der gesamten westafrikanischen Region, unter anderem in Burkina Faso, Niger, Tschad, Mali und Nigeria, zugenommen. Zwischen 2015 und 2022 hat sich die Zahl der Menschen, die auf Nahrungsmittelsoforthilfe angewiesen sind, von 7 auf 27 Millionen fast vervierfacht.
"In einigen Teilen der Sahelzone ist die Getreideproduktion im Vergleich zum Vorjahr um etwa ein Drittel zurückgegangen. Die Nahrungsmittelvorräte der Familien gehen zur Neige. Dürre, Überschwemmungen, Konflikte und die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 haben Millionen von Menschen von ihrem Land vertrieben und sie an den Rand des Abgrunds gedrängt", sagt Assalama Dawalack Sidi, Oxfams Regionaldirektorin für West- und Zentralafrika.
"Die Situation zwingt Hunderttausende Menschen dazu, in andere Regionen umzuziehen und bei Gastfamilien zu leben, die selbst schon unter schwierigen Bedingungen leben. Es gibt nicht genügend Lebensmittel, geschweige denn ausreichend nahrhafte Nahrung für Kinder. Wir müssen ihnen dringend helfen, denn ihre Gesundheit, ihre Zukunft und sogar ihr Leben stehen auf dem Spiel", sagte Philippe Adapoe, der Direktor von Save the Children für West- und Zentralafrika.
Die Unterernährung nimmt in der Sahelzone stetig zu. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden in diesem Jahr 6,3 Millionen Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten akut unterernährt sein - darunter mehr als 1,4 Millionen Kinder in der Phase der schweren akuten Unterernährung - gegenüber 4,9 Millionen akut unterernährten Kindern im Jahr 2021.
"Ich hatte fast keine Milch mehr, also gab ich meinem Baby andere Nahrung. Er weigerte sich oft, sie anzunehmen und verlor an Gewicht. Außerdem hatte er Durchfall, was seinen Zustand verschlimmerte", sagte Safiatou, eine Mutter, die wegen der Gewalt in Burkina Faso aus ihrem Dorf fliehen musste.
Dramatische Auswirkungen auf die Zukunft der Kinder
Zusätzlich zu den Konflikten und der Unsicherheit haben Dürreperioden und ungünstige Niederschlagsverteilung die Nahrungsquellen der Gemeinschaften, insbesondere in der zentralen Sahelzone, reduziert. Um die Lücke auszugleichen, verkaufen viele Familien ihren Besitz und gefährden damit ihre Produktionskapazitäten und die Zukunft ihrer Kinder. Junge Mädchen werden möglicherweise zu einer frühen Heirat gezwungen, und andere Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt können mit der Verknappung der Nahrungsmittel zunehmen.
"Mehr als 1,4 Millionen Kinder in der Sahelzone und in Westafrika sind am Rande des Abgrunds“, warnt Carla Denizard, Regionaldirektorin von World Vision für Westafrika. „Lebensrettende Maßnahmen sind jetzt erforderlich, um eine Katastrophe zu verhindern, bei der Zehntausende von Kindern sterben könnten. Die Zeit läuft ab. Wenn die Welt untätig bleibt oder zu spät handelt, müssen Familien gefährliche Überlebensentscheidungen treffen, die für Mädchen und Jungen tödlich enden können oder dauerhafte negative Folgen haben werden.“
"Die Regenfälle waren spärlich. Es gibt kein Futter mehr. Durch den Mangel an Weideland werden die Schafe immer dünner und das zwingt uns, sie mit Verlust zu verkaufen. Früher hatte ich zwölf Schafe, aber jetzt habe ich nur noch eines", erklärt Ramata Sanfo, ein Hirte aus Burkina Faso. "Ich hätte gerne mein Vieh zurück, damit ich genug Geld habe und meine Kinder wieder zur Schule gehen können."
Die Krise in Europa verschlimmert eine bereits katastrophale Situation
In den vergangenen fünf Jahren sind die Lebensmittelpreise in Westafrika um 20-30 Prozent gestiegen. Während die Nahrungsmittelreserven in der Sahelzone schwinden, verschärft die Krise in der Ukraine die Situation auf gefährliche Weise. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) könnten die Lebensmittelpreise weltweit um weitere 20 Prozent steigen, was für die ohnehin schon arme Bevölkerung eine untragbare Erhöhung darstellt. Darüber hinaus wird die Krise wahrscheinlich zu einem erheblichen Rückgang der Verfügbarkeit von Weizen in sechs westafrikanischen Ländern führen, die mindestens 30 Prozent und in einigen Fällen mehr als 50 Prozent ihres Weizens aus Russland oder der Ukraine importieren.
Eine weitere wahrscheinliche Folge der Krise in Europa ist ein starker Rückgang der internationalen Hilfe für Afrika. Viele Geber haben bereits angedeutet, dass sie ihre Mittel für Afrika kürzen könnten. So hat Dänemark angekündigt, einen Teil seiner bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für Burkina Faso (50 Prozent im Jahr 2022) und Mali (40 Prozent im Jahr 2022) zu reduzieren, um die Aufnahme von Menschen, die der Ukraine geflohen sind, mit neuem Geld zu finanzieren.
"Humanitäre Krisen dürfen nicht miteinander konkurrieren", sagt Mamadou Diop, regionaler Vertreter von Aktion gegen den Hunger. "Die Sahelkrise ist eine der schlimmsten humanitären Krisen weltweit und gleichzeitig eine der am wenigsten finanzierten. Wir befürchten, dass durch die Umleitung der humanitären Budgets für die Ukraine-Krise in Kauf genommen wird, eine Krise zu verschärfen, um auf eine andere zu reagieren."
Die humanitären Organisationen fordern die Regierungen und Geber auf, die Fehler des Jahres 2021 nicht zu wiederholen, als nur 48 Prozent des humanitären Hilfeplans in Westafrika finanziert wurden. Sie müssen unverzüglich die Finanzierungslücke von 4 Milliarden US-Dollar im UN-Hilfsaufruf für Westafrika schließen, um Leben zu retten und sicherzustellen, dass diese Mittel alters-, geschlechts- und behindertengerechte Maßnahmen unterstützen. Keiner darf zurückgelassen werden.
"Die für morgen anberaumte Konferenz zur Sahel-Krise ist eine einmalige Gelegenheit, die notwendige Soforthilfe für Nahrungsmittel und Ernährung zu mobilisieren und zu beweisen, dass das Leben der Menschen in Afrika nicht weniger wert ist als das der Menschen in Europa", sagt Assalama Dawalack Sidi.