IRC veröffentlicht mit der „Emergency Watchlist” jährlich einen Bericht über die Länder mit den derzeit schlimmsten humanitären Krisen. Die diesjährige Liste wird von Afghanistan, Äthiopien und Jemen angeführt.
Die Watchlist zeigt ein Versagen des internationalen Systems, von einzelnen Regierungen über völkerrechtliche und diplomatische Organisationen bis hin zu den Vereinten Nationen selbst. Die Systeme, die zur Verhinderung und Bewältigung humanitärer Krisen gedacht sind, sind defekt.
Woher wissen wir, welche Länder am meisten gefährdet sind?
Die Watchlist stützt sich auf eine einzigartige Methodik, die sich im Laufe der Jahre bewährt und bewiesen hat. Unser Krisenanalyseteam untersucht mehr als 60 verschiedene qualitative und quantitative Indikatoren und berücksichtigt dabei die Faktoren, von denen bekannt ist, dass sie Krisen auslösen.
„Wir betrachten sowohl die Wahrscheinlichkeit eines ‚Schocks‘, z. B. einer Naturkatastrophe oder eines Konflikts, als auch die potenziellen Auswirkungen basierend darauf, womit die Menschen bereits konfrontiert sind und inwieweit ihre Regierung sie unterstützen kann“, erklärt George Readings, Leiter der globalen Krisenanalyse von IRC.
„In einem Land wie Japan beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit einer Naturkatastrophe zwar hoch, aber der Druck auf die Bevölkerung – wie Armut oder mangelnder Zugang zu Nahrungsmitteln – ist geringer als an anderen Orten und die Regierung ist in der Lage, auf einen Notfall zu reagieren.“
Der Bericht zeichnet sich auch durch die Beiträge der 30.000 Mitarbeiter*innen und Freiwilligen von IRC aus, die in Krisengebieten auf der ganzen Welt im Einsatz sind.
„Wir erhalten Einblicke von Kolleg*innen, die uns ein klareres Bild von den Vorgängen verschaffen“, sagt Readings. „Sie liefern uns Informationen, die wir aus anderen Quellen nicht bekommen könnten. Das ist besonders wichtig, wenn wir über Orte wie die Zentralafrikanische Republik sprechen – Krisen, die für viele unter dem Radar fliegen.“
Schließlich zielt die Watchlist nicht nur darauf ab, zu untersuchen, wo sich Krisen verschärfen, sondern auch, warum sie sich verschärfen und was wir dagegen tun können.
Was meint „Systemversagen"?
Sowohl Readings als auch Kitchen stellen fest, dass es auf der diesjährigen Watchlist „nicht viele Überraschungen“ gibt. Fast alle der vorgestellten Länder haben bereits jahrelang mit Konflikten und Katastrophen zu kämpfen, während die internationale Gemeinschaft – die Staaten und Institutionen, die helfen könnten – es versäumt hat, einzugreifen.
„Kriege dauern immer länger“, sagt Kitchen. „Sie sind komplexer und schwieriger zu schlichten, geschweige denn überhaupt zu lösen, wenn die internationale Gemeinschaft nicht eingreift.“
„Jede humanitäre Krise ist in ihrem Ursprung eine politische Krise“, erklärt Readings. „Wenn wir von Systemen sprechen, meinen wir zum Beispiel Staaten, die die Verantwortung haben, sich um ihre Bürger*innen zu kümmern. Es gibt Diplomatie, die bei Konflikten vermitteln soll. Es gibt das Völkerrecht und Institutionen, die regeln sollen, wie Kriege geführt werden, und die deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung begrenzen sollten. Und wenn all dies zusammenbricht, dann muss das humanitäre System einspringen und diese Lücken füllen.“
Readings verweist auf die Demokratische Republik Kongo, die auf der diesjährigen Watchlist an sechster Stelle steht, als Beispiel für Systemversagen. Das Land ist nach jahrzehntelangen gewaltsamen Konflikten bereits acht Jahre in Folge auf der Liste. Es sieht sich derzeit mit einer der größten Nahrungsmittelkrisen der Welt konfrontiert.
„Man kann nicht auf einen bestimmte Punkt hinweisen, der die Dinge im Kongo dramatisch aus dem Ruder laufen lässt“, sagt er. „Dennoch gibt es dort mehr Menschen in Not als in jedem anderen Land der Welt.”
„Jede humanitäre Krise ist in ihrem Ursprung eine politische Krise.“
„Es ist ein Systemversagen, weil zum einen der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Zum anderen versuchen die regionalen Akteure nicht, ein Ende der Konflikte auszuhandeln, sondern intervenieren nur zu ihrem eigenen Vorteil. Der Konflikt wird unter völliger Missachtung der Rechte der Zivilbevölkerung ausgetragen, wobei es zu massiven Übergriffen kommt. Was die humanitäre Hilfe betrifft, so fehlt es an finanziellen Mitteln. Letztes Jahr standen humanitären Helfer*innen nur 37% der Mittel zur Verfügung, die sie für ihre Arbeit benötigten.“
Readings ist sich darüber im Klaren, dass die Demokratische Republik Kongo nur ein Beispiel von vielen ist. „Wir weisen nicht auf Versäumnisse hin, die spezifisch für diese Länder sind. Wir weisen auf systemisches Versagen hin.“
Die IRC Watchlist geht auf drei entscheidende Veränderungen ein, die zu diesem globalen Versagen geführt haben:
1. Länder, die sich in die Bürgerkriege ihrer Nachbarn einmischen
Heute gibt es mehr Konflikte und mehr Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Großteil dieser zunehmenden Gewalt ist auf „internationalisierte interne Konflikte“ zurückzuführen, wie es Expert*innen bezeichnen. Dabei handelt es sich um interne Konflikte (Länder kämpfen gegen nichtstaatliche bewaffnete Gruppen wie Milizen oder Oppositionsgruppen), bei denen eine Seite von außen unterstützt wird. In vielen Fällen sind mehrere externe Akteure beteiligt – bis zu einem Dutzend.
Kitchen führt Jemen, auf der diesjährigen Watchlist an dritter Stelle, als Beispiel an: „Es geht nicht nur darum, dass die UN oder andere Länder sich nicht engagieren, um die Situation zu entschärfen.Was stattdessen passiert, ist, dass andere Länder für die eine oder andere Seite Partei ergreifen. So unterstützt der Iran in Jemen die eine Seite und Saudi-Arabien die andere. Die globale Politik schürt den lokalen Konflikt.”
„Andere, die zu helfen versuchten, ziehen sich zurück, und Jemen bleibt in den Händen von Akteuren, die sich darum streiten, wer das Sagen haben soll. Dieser Streit äußert sich in einer Anhäufung von Finanzmitteln und Waffen, die den Konflikt anheizen."
„Die Welt hat versucht, eine Lösung für Jemen zu finden, aber ist gescheitert. Und jetzt versuchen wir es gar nicht mehr.“
Die meisten Konflikte, die die Krisen der Watchlist-Länder anheizen, fallen in diese Kategorie. Das ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass internationalisierte zivile Konflikte fast alle der tödlichsten Konflikte der heutigen Zeit ausmachen. Sie spalten die Bevölkerung und führen dazu, dass die Regierungen bestimmte Zivilist*innen als „Feind“ ansehen. Oft werden Krankenhäuser, Schulen und andere wichtige Infrastrukturen zerstört. Auf jeden Todesfall auf dem Kriegsfeld kommen heute fast doppelt so viele Todesfälle in der Zivilbevölkerung durch vermeidbare Krankheiten, Hunger und andere Ursachen, die nicht auf Kampfhandlungen zurückzuführen sind.
2. Eine Welt im Wandel
In dem Maße, in dem sich die Art der bewaffneten Konflikte verändert hat, haben sich auch die Machtverhältnisse in der Welt gewandelt. Das Ende einer Welt mit den Vereinigten Staaten als einzige Supermacht hätte eine einmalige Gelegenheit bieten können, neue Wege der Zusammenarbeit zur Verhinderung und Lösung humanitärer Krisen zu finden. Stattdessen ist die Welt gespalten.
So intervenieren viele mächtige Staaten, um eines der weltweiten Instrumente zur Minderung der Auswirkungen von Kriegen zu stoppen: den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Fünf Länder – China, die Vereinigten Staaten, Russland, das Vereinigte Königreich und Frankreich – haben derzeit die Möglichkeit, ein Veto gegen Initiativen des UN-Sicherheitsrats einzulegen. In den 1990er-Jahren wurde das Vetorecht nur neun Mal genutzt, in den 2000er-Jahren waren es 14 und in den 2010er-Jahren 22 Mal. So verhinderten beispielsweise Russland und China eine Diskussion über Menschenrechtsverletzungen in Syrien und die USA in Palästina.
„Im Moment reicht dieses Vetorecht für viele Länder aus, um mit ihren Belangen gar nicht erst zum Sicherheitsrat zu gehen, weil es sich nicht lohnt“, sagt Kitchen. „Also tun wir nichts gegen Krisen.“
Schließlich wird ein Großteil der Konflikte in der Welt heute von nichtstaatlichen Akteuren ausgetragen. Dazu gehören lokale Oppositionsgruppen, wie die im Jemen. Dazu gehören auch kriminelle Banden, wie in den Watchlist-Ländern Honduras und Haiti, oder bewaffnete Gruppen, wie in den afrikanischen Staaten Burkina Faso, Mali und Niger. Das Auftreten dieser nichtstaatlichen Akteure ist eine Herausforderung für ein System, das für die Konfliktverhandlung zwischen Staaten gebaut wurde, aber nun die Einmischung von nichtstaatlichen Akteuren bewältigen muss.
3. Rückzug von universellen Rechten
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Welt zusammen, um die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ zu verfassen, in der die Rechte festgelegt wurden, die allen Menschen auf der Welt zustehen sollten. Diese Betonung der globalen Menschenrechte wurde zum Schutz der Zivilbevölkerung in Konfliktgebieten, zur Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen und zur Ausarbeitung des Völkerrechts herangezogen.
Heute betonen Länder aller Art ihre Souveränität, um eine Verpflichtung zu diesen universellen Prinzipien zu umgehen.
„Der Geist der universellen Menschenrechte wurde aufgegeben“, sagt Readings. „Und das betrifft nicht nur autoritäre Staaten. Es sind nicht nur Staaten im globalen Süden, sondern auch im globalen Norden. Es sind reiche Staaten sowie nicht reiche Staaten. Konfliktbetroffene und nicht konfliktbetroffene. Sie alle tun es.“
„Die Länder kehren sich voneinander ab, sagt Kitchen. „Die Großmächte konzentrieren sich auf ihre eigenen Probleme, und in einer wachsenden Zahl von Ländern gibt es nationalistische Tendenzen. Die Länder konzentrieren sich immer mehr auf ihre Souveränität und nehmen keine Hilfsangebote von außen oder Friedensgespräche an.“
„Im Jahr 2020 gab es mehr schwere Angriffe auf Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen als je zuvor.“
Eine Folge dieses Trends ist, dass viele Menschen nicht die humanitäre Hilfe erhalten, die sie benötigen. 2021 hat sich der Zugang zu humanitärer Hilfe in sechs Ländern der Watchlist erheblich verschlechtert: Afghanistan, Äthiopien, Mali, Myanmar, Nigeria und Somalia. 2020 gab es mehr schwere Angriffe auf Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen als je zuvor – 484, von denen 94% gegen einheimisches Personal gerichtet waren.
Hinzu kommt, dass wohlhabende Länder immer mehr zögern, die für die Gewährleistung der allgemeinen Menschenrechte erforderlichen Mittel bereitzustellen.
„Reiche Länder sollten eigentlich Geld spenden, um Ländern zu helfen, die mit Krisen zu kämpfen haben, aber sie tun nicht genug. Sie sollen Geflüchtete aufnehmen, aber nur ein Prozent der Geflüchteten werden jemals neu aufgenommen.“
Diese Konzentration auf die Souveränität hat auch dazu geführt, dass Länder jegliche Rechenschaftspflicht blockieren, wenn sie Menschenrechtsverletzungen begehen. Im Jahr 2020 ging die Trump-Administration sogar so weit, Mitarbeiter*innen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu sanktionieren, weil sie behauptete, dass eine Untersuchung angeblicher Menschenrechtsverletzungen durch US-Truppen in Afghanistan die nationale Souveränität der USA verletze. Mehrere afrikanische Länder haben den IStGH ebenfalls beschuldigt, gegenüber Afrikaner*innen voreingenommen zu sein und ihre Souveränität zu untergraben.
Was kann getan werden?
Kitchen ist stolz darauf, dass die Watchlist, ursprünglich als Instrument für humanitäre Organisationen gedacht, zu etwas geworden ist, „auf das sich die Welt verlassen und das sie ernst nehmen kann.“
Er hofft auch, dass speziell dieses Jahrführende Politiker*innen die Welt zum Handeln anregt. Der Bericht selbst enthält Lösungsvorschläge, die sich sowohl auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen als auch auf den Ursprung
der aktuellen Probleme der Welt konzentrieren.
Hilfe für Menschen in Not
„Eine Lösung, die mir besonders ins Auge fällt“, sagt Kitchen, „ist, dass wir die Entwicklungshilfe aus dem Ausland so einsetzen müssen, dass sie den größten Bedürfnissen gerecht wird. Das heißt, wir müssen sie in sehr fragile, von Konflikten betroffene Länder bringen, anstatt sie für außenpolitische Investitionen oder die Entwicklung von Unternehmen in stabilen Entwicklungsländern zu verwenden.“ In dem Bericht wird gefordert, die Hälfte der ausländischen Entwicklungshilfe in fragile Länder zu leiten, statt des Viertels, das derzeit aufgewendet wird.
Die Watchlist benennt zwei der größten Treiber des Leidens in der heutigen Welt: COVID-19 und der Klimawandel. Da 74% der COVID-19-Impfstoffe an Länder mit hohem und mittlerem Einkommen geliefert wurden, bleibt ein Großteil der Welt auf der Strecke. Um diese Lücke zu schließen, muss Impfstoff gespendet werden . Auch muss es ärmeren Ländern ermöglicht werden, die Impfstoffe selbst herzustellen.
Obwohl sie den Klimawandel nicht verursacht haben, leiden die Länder auf der Watchlist an den Folgen der Erderwärmung am stärksten. Diese Länder brauchen Zugang zu mehr finanziellen Mitteln, um sich an Stürme, Dürren, Hitzewellen und andere Wetterextreme anpassen zu können.
Der Bericht fordert außerdem einen „New Deal“ für Vertriebene, der die Umsiedlung von 400.000 Geflüchteten im Jahr 2022 und einen Schuldenerlass für die Entwicklungsländer vorsieht, die die meisten Geflüchteten der Welt aufnehmen.
Mehr erfahren
Wenn Sie mehr erfahren möchten, sehen Sie sich die Länder genauer an, die auf der diesjährigen Watchlist stehen. Den vollständigen Bericht können Sie hier lesen.
Während all dies geschieht, ist es wichtig zu wissen, dass es etwas gibt, das nicht versagt – und das ist unsere gemeinsame Arbeit. Mit Hilfe unserer Spender*innen leistet IRC lebenswichtige humanitäre Hilfe an den schwierigsten und entlegensten Orten der Welt. Wir unterstützen Geflüchtete und Vertriebene und helfen ihnen nicht nur zu überleben, sondern sich auch ein neues Leben wiederaufzubauen. Unterstützen Sie uns und spenden Sie noch heute.