Er ist Syrer. Er ist Vater. Er hat sein Leben riskiert, um anderen zu helfen. Und er versuchte, so lange zu bleiben, wie er konnte. Doch dann musste auch er fliehen, um seine Familie und sich selbst zu schützen.
International Rescue Committee sprach mit einem seiner Mitarbeiter in der nordwestsyrischen Provinz Idlib, wo mehr als 950.000 Menschen seit Dezember aufgrund gewaltsamer Kämpfe vertrieben wurden. Es ist die größte Vertreibung seit dem Beginn des Krieges in Syrien vor neun Jahren.
Der Mitarbeiter, der aus Angst um seine Sicherheit anonym bleiben möchte, musste kürzlich selbst aus seiner Heimat zu fliehen. Er beschreibt, wie es war, unter unerbittlicher Gewalt in Idlib zu leben und zu arbeiten und erzählt, wie er die letzten Momente mit seiner Familie erlebt hat, bevor er sie zu ihrer Sicherheit an einen anderen Ort schickte.
Idlib, 05. März 2020
„Als ich mich von meinen Kindern verabschiedete, waren sie ziemlich erschüttert. Sie weinten und schrien, klammerten sich an ihre Mutter fest. Aber Eltern müssen stark, auch wenn man sich nicht so fühlt. Ich schickte sie mit ihrer Mutter an einen anderen – einen sicheren Ort.
Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich habe Alpträume. Morgens wenn ich aufwache, denke ich zuallererst an meine Familie und frage mich, ob sie noch in Sicherheit ist. Vielleicht sehe ich sie nie wieder?
Während des Krieges sind wir schon dreimal geflohen. Ich kenne Leute, die mussten sogar zehn Mal oder noch öfter fliehen. Wir hatten Vertriebene in unserem Haus aufgenommen, damit sie ein Dach über dem Kopf hatten. Wir wussten, wir würden eines Tages in der gleichen Situation sein.
Als ich dann im Januar unser Haus verließ, flogen gerade bis zu 10 Flugzeuge über uns hinweg. Wir standen unter schwerem Artilleriebeschuss. Man schoss mit Maschinengewehren. Und dann fielen Bomben – so viele, dass es sich anfühlte, als würde es regnen.
Wir fürchteten uns nicht vor den Flugzeugen selbst. Wir fürchteten uns vor dem, was sie abwarfen. Am Schlimmsten waren die Hubschrauber. Sie warfen Rohrbomben ab. Die haben den größten Schaden verursacht. Meine Kinder flehten die Piloten an, nicht auf sie zu zielen. Und dann fragten sie uns: Was passiert, wenn sie uns treffen? Was passiert, wenn wir sterben? Wird Gott uns beschützen?
Wir wussten, wir würden eines Tages in der gleichen Situation sein.
Was soll man in einer solchen Situation tun - wenn man absolut keine Kontrolle hat, sich die gleichen Fragen stellt? Alles, was wir Eltern tun können, ist ihnen zu versprechen, dass wir sie in Sicherheit bringen.
Ich bin mit dem Auto geflohen. Ich nahm noch weitere Leute mit – so viele wie möglich. Andere mussten laufen. Es war schrecklich, an diesen Familien vorbeizufahren. Aber ich konnte sie nicht alle mitnehmen.
Alles, was wir Eltern tun können, ist ihnen zu versprechen, dass wir sie in Sicherheit bringen.
„Die Menschen haben viel durchgemacht“
Es ist eine verzweifelte Situation. Die Menschen haben viel durchgemacht. Sie haben kein Zuhause, keinen Ort, an dem sie ihre Kinder aufziehen können. Sie versuchen, Geld zu verdienen, damit sie sie ernähren können. Sie fragen sich ständig, ob sie wieder fliehen müssen.
Da ist es schwierig, Gefühle zu beschreiben. Wenn man den Ort verlassen muss, mit dem man all seine Träume verbindet – was ist man dann: Zerstört? Vernichtet?
Trotzdem hatte ich Glück. Ich habe ein neues Dach über dem Kopf. Aber Tausende von Menschen, leben in Zelten oder leeren Gebäuden. Andere schlafen unter freiem Himmel. Humanitäre Organisationen konnten nicht so schnell helfen. Es waren zu viele Menschen, die in den letzten Monaten flüchten mussten.
Als Mitarbeiter des International Rescue Committee helfe ich den Menschen, die besonders schutzbedürftig sind. Sie erhalten finanzielle Unterstützung – Bargeld – das hilft ihnen am meisten. Damit können sie kaufen, was sie tatsächlich am dringendsten brauchen – Lebensmittel für die einen, ein Zelt für die anderen.
„Trotzdem verlieren die Menschen nicht ihre Hoffnung“
Bislang sind in Idlib sieben Kinder an der Kälte gestorben. Der Vater eines dieser Kinder trug seine Tochter aus dem ungeheizten Zelt zum nächsten Arzt, ohne zu wissen, dass sie bereits gestorben war. Erst im Krankenhaus wurde ihm gesagt, dass das Mädchen schon zwei Stunden zuvor gestorben war.
Die Menschen, die jetzt in dieser Kälte draußen leben müssen, wünschen sich, sie wären schon viel früher geflohen. Aber sie haben durchgehalten. Sie wollten nicht glauben, dass auch sie vor der Gewalt fliehen müssen. Und jetzt leiden sie. Das einzige was sie wollen, ist, zu überleben.
Trotzdem verlieren die Menschen nicht ihre Hoffnung. Wir sind zuversichtlich, dass die Dinge besser werden. Wir haben schon einmal ein gutes Leben geführt. Warum sollten wir das nicht wieder tun?“
IRC in Syrien
Im vergangenen Jahr hat International Rescue Committee in ganz Syrien über 1,1 Millionen Menschen - fast die Hälfte davon Kinder - lebensrettende Hilfe geleistet. Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit vor Ort.