„Unser Ärzteteam steht buchstäblich an der Brücke.“
Tausende Menschen sind seit Beginn der COVID-19-Pandemie und der darauffolgenden Schließung der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien gestrandet. IRC versorgt sie mit dem nötigsten und behandelt Coronavirusfälle.
22. Mai 2020
Zuletzt aktualisiert
Vor der Coronavirus-Pandemie war die Simón-Bolívar-Brücke einer der Knotenpunkte. Rund 40.000 Venezolaner*innen überquerten sie täglich, um in Kolumbien zu arbeiten oder dringend benötigte Güter zu kaufen. Schwangere Frauen liefen kilometerweit für pränatale Untersuchungen, die sie in der Heimat nicht mehr erhalten konnten.
Jetzt ist es anders: Kolumbien ist abgeriegelt. So soll die Ausbreitung von COVID-19 verhindert werden. Venezolaner*innen, die dort ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, kehren nun in ihr Heimatland zurück. Aufgrund der Pandemie wurde jedoch die Grenze geschlossen. Tausende Menschen sind gestrandet oder gezwungen, unsichere Routen zurück nach Venezuela zu benutzen.
Als Reaktion hat International Rescue Committee rasch medizinische Einrichtungen direkt an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze eingerichtet. Damit können Menschen in kritischer Lage eine Grundversorgung erhalten. COVID-19-Tests werden dort angeboten werden.
Karina und ihre zehnjährige Tochter Geicelis vor der Coronavirus-Pandemie. Die venezolanische Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Getränken und Babyfeuchttüchern an Autofahrer in Barranquilla, Kolumbien.
Foto: Jessica Wanless/IRC
Hinter verschlossenen Türen versteckt
Vor der Pandemie arbeiteten viele in Kolumbien lebende Venezolaner*innen in der informellen Wirtschaft - sie verkauften Süßigkeiten oder Zigaretten, zeigten für ein paar Cent Kunststücke auf der Straße oder bettelten.
Doch Ende März riegelte die kolumbianische Regierung das Land ab. Der Ausgang wurde beschränkt. Für Menschen, die bereits an Hunger und Unterversorgung litten, eine große Gefahr.
Vor COVID-19 aßen die Menschen nur zwei Mahlzeiten am Tag“, sagt Marianne Menjivar, IRC-Landesdirektorin für Kolumbien und Venezuela. „Jetzt essen sie einmal am Tag und dabei handelt es sich nur um eine Arepa – ein Fladenbrot aus Maismehl.“
Viele in Kolumbien lebende Venezolaner*innen haben oft keinen Zugang zu sauberem Wasser und können sich so nicht regelmäßig die Hände waschen Und es gibt noch ein Problem:
„Es ist sehr schwierig, sie zu finden, wenn sie hinter verschlossenen Türen sitzen“, sagt Menjivar. „Allein in Bogotá gibt es 400.000 Venezolaner*innen. Aber die Frage ist, wo sind sie?“
Tausende von „caminantes“ versuchen, wieder nach Hause kommen
Fast 10.000 „caminates“ – Wanderer – haben seit Anfang April die Simón-Bolívar-Brücke wieder überquert. Doch inzwischen ist sie geschlossen – nur besonders schutzbedürftige Menschen dürfen den Übergang noch nutzen. Der Großteil ist gezwungen, auf unsichere Routen auszuweichen. Sie gingen, so Menjivar, weil sie in Kolumbien kein regelmäßiges Einkommen mehr erzielen können. Das habe eine informelle Befragung an der Grenze ergeben.
„Unser Ärzteteam steht buchstäblich an der Brücke.“
IRC stellte schnell Teams aus Ärzt*innen und Pflegepersonal zusammen, um gestrandete Reisende zu versorgen. Sie stellten sich dafür direkt an die Simón-Bolívar-Brücke. Ein weiteres Team baute seine Station an der Autobahn Bogotá-Chiaauf.
Eine Frau wird an der Simón-Bolívar-Brücke von IRC-Mitarbeiter*innen medizinisch versorgt.
Foto: IRC
„Unsere Teams stehen buchstäblich an der Brücke,“ sagt Menjivar. „Wir führen Temperaturkontrollen durch. Es kann ein Schnelltest auf COVID-19 gemacht werden. Bei positivem Ergebnis unterstützen wir sie, indem wir Ihnen Zugang zu medizinischer Versorgung, Unterkunft und Nahrung verschaffen.“
Seit Jahren bietet IRC eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung für Venezolaner*innen und andere schutzbedürftige Menschen in Kolumbien an – zum Beispiel in einer Klinik, in der Patient*innen seit 2018 kostenlos versorgt werden und finanzielle Unterstützung erhalten. Seit Beginn der Pandemie werden Leistungen und Beratungen auch per Telemedizin angeboten. Dies gilt insbesondere für Mütter, die im Rahmen der reproduktiven Gesundheitsversorgung unterstützt werden.
Diese Unterstützung erhalten nun auch Migrantinnen auf der Brücke und Autobahn. „Werdende Mütter bekommen ihre Kinder – mit oder ohne Pandemie,“ sagt Menjivar. „Wenn man so tut, als sei nur noch COVID-19 wichtig, riskiert man höhere Müttersterblichkeitsraten.“
Deckung der Grundbedürfnisse trotz Pandemie
Die Rückreise nach Venezuela ist brutal. Menjivar erzählt, wie sie eine Gruppe von 200 Personen gefunden haben, die neben einer Tankstelle kampieren mussten. Die Menschen, darunter auch schwangere Frauen, schliefen fünf Nächte im Freien – nur auf Pappe. IRC konnte ihnen Hygienesets mit Seife, Zahnpasta, Zahnbürsten, Toilettenpapier und Handtüchern zur Verfügung zu stellen. Mehr als 1.100 dieser Kits wurden inzwischen an „caminates“ verteilt.
IRC-Teams verteilen Hygiene-Kits mit Seife, Zahnpasta, Zahnbürsten, Toilettenpapier und Handtüchern sowie Trinkwasser und Nahrungsmittel an venezolanische Migrant*innen an der Grenze zu Kolumbien.
Foto: IRC
IRC, das mit einer Organisation namens VenEsperanza zusammenarbeitet, hilft bedürftigen Venezolaner*innen auch mit Bargeldhilfen. Sie sind besonders wichtig, denn sie erlauben es den Menschen, das zu kaufen, was für ihre Familien am dringendsten benötigt wird. Bislang haben mehr als 230.000 Venezolaner*innen von dieser Hilfe profitiert.
Menjivar hofft nun, dass die Solidarität mit Geflüchteten, die weltweit während der Pandemie gezeigt wird, Positives bewirken kann.
„Wenn es einen Silberstreif am COVID-19-Himmel gibt, dann ist das der Geist der Zusammenarbeit, der Unterstützung, des Mitgefühls und der Solidarität, das wir vielerorts sehen,“ sagt Menjivar. „Es handelt sich um eine weltweite Pandemie. Mit so etwas waren wir so noch nicht konfrontiert. Es gibt so viele Dinge über diese Krankheit, die wir noch nicht kennen. Und es ist wirklich an der Zeit, zusammenzukommen und uns zusammenzuhalten.“