Berlin, 26. Juni 2023 — International Rescue Committee (IRC) und CARE fordern gemeinsam eine Verlängerung der UN-Resolution zu grenzüberschreitender humanitären Hilfe in den Nordwesten Syriens, die am 10. Juli ausläuft. Fast sechs Monate sind seit den verheerenden Erdbeben, die insbesondere die nordwestliche Region des Landes getroffen haben, vergangen. 15,3 Millionen Syrer*innen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen und lediglich 11,6 Prozent des humanitären Hilfsplans für Syrien sind finanziert.
Andrea Sweeney, Leiterin UN-Vertretung von International Rescue Committee, sagt:
,,IRC fordert den UN-Sicherheitsrat auf, die grenzüberschreitende Hilfe für mindestens weitere 12 Monate zu genehmigen. Syrer*innen benötigen und verdienen Entscheidungen, die auf humanitären Imperativen und nicht auf politischen Erwägungen beruhen. Hier geht es um Menschen, nicht um Schachfiguren. Es sind vier Monate vergangen, seitdem zwei schwere Erdbeben und mehr als 9.000 Nachbeben den Norden Syriens und den Süden der Türkei getroffen haben. 5.900 Menschen sind ums Leben gekommen und mehr als 10.000 wurden verletzt. Schätzungen zufolge, wurden 2,7 Millionen Menschen in Syrien vertrieben, wobei fast jede*r in Nordwestsyrien auf irgendeine Weise von dem Erdbeben betroffen war. Während die Nachrichtenlage abgeflaut ist, müssen Syrer*innen Tag für Tag weiter mit den Folgen der Erdbeben leben. Es wird viele Monate, wenn nicht Jahre dauern, um den entstandenen Schaden zu beheben.
Falsche Behauptungen wurden aufgestellt, dass Hilfe über Konfliktlinien der von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten hinweg geliefert werden kann. Es gibt jedoch Beweise dafür, dass das nicht der Fall ist. Auch der Generalsekretär erklärt weiterhin, dass es derzeit keine realistische Alternative zur grenzüberschreitenden Hilfe gibt, die dem Umfang und der Wirkung grenzüberschreitender Hilfe entspricht. Es gab bisher keine Erklärung oder Rechtfertigung für die Einschränkung humanitärer Hilfe. Die Diskussion im UN-Sicherheitsrat sollte sich darauf konzentrieren, den humanitären Zugang zu erweitern statt ihn einzuschränken. Unmittelbar nach dem Erdbeben war der einzige verbleibende vom UN-Sicherheitsrat genehmigte Grenzübergang, Bab al-Hawa, aufgrund zerstörter Straßen, die für den Transport von Hilfe genutzt werden, außer Betrieb. Eine Ausweitung der Hilfe wurde durch eine Notvereinbarung zwischen Syriens Regierung und der UN unterstützt, um zwei zusätzliche Grenzübergänge zu öffnen. Diese kontextspezifischen, bilateralen und kurzfristigen Vereinbarungen erlauben jedoch keine stabile Zugangsmöglichkeit und schmälern nicht die Notwendigkeit, dass der UN-Sicherheitsrat den grenzüberschreitenden Mechanismus und den Zugang durch Bab al-Hawa für mindestens weitere 12 Monate genehmigen muss.
Es ist entscheidend, sich daran zu erinnern, dass dieser Mechanismus die gesamte humanitäre Hilfe in Nordsyrien unterstützt. Ohne ihn würden über eine Million Menschen ihre einzige Nahrungsquelle verlieren, NROs hätten keinen Zugang zu Finanzierungsmitteln, keinen Zugang zur UN-Versorgungskette für Medikamente und Hilfsgüter und keine koordinierenden Strukturen, die eine unabhängige und sichere Hilfe in allen Teilen Syriens gewährleisten. Für die Syrer*innen bedeutet das, dass sie nicht wissen, woher ihre nächste Mahlzeit kommen wird, dass Diabetiker*innen Schwierigkeiten haben, an Insulin zu gelangen und dass Kinder ohne lebenswichtige Impfungen auskommen müssen. Wie der Generalsekretär deutlich gemacht hat, ist es keine politische Entscheidung, alle bedürftigen Syrer*innen über die direktesten Wege zu erreichen; es ist ein humanitärer und moralischer Imperativ. Der Sicherheitsrat muss zeigen, dass er nicht bereit ist, Politikmache über das Leben von Menschen zu stellen. Seine Aufgabe besteht darin, die Zivilbevölkerung zu schützen und nicht für Leiden und Verlust von Leben verantwortlich zu sein."
Abdulkader, IRC-Teamleiter für Schutz und Rechtsstaatlichkeit in Syrien, kommentiert:
,,Jeder, von der internationalen Gemeinschaft über NROs bis hin zur lokalen Bevölkerung, kennt die Bedeutung des grenzüberschreitenden Mechanismus. Wenn dieser verloren geht, wird sich die katastrophale Situation in Syrien nur noch verschlimmern. Wir können uns nicht einmal vorstellen, wie eine Entscheidung gegen Menschen getroffen werden könnte, die bereits seit über 12 Jahren leiden. Die Gemeinschaften, mit denen wir zusammenarbeiten, können einfach nicht verstehen, warum die internationale Gemeinschaft ihre Not noch weiter erhöhen würde, indem sie eine ihrer wichtigsten Überlebenshilfen schließt, ohne eine Alternative zu haben. Das wird verheerende Folgen haben."
Tareq, ein IRC-Klient, wurde intern vertrieben und lebt mit seiner sechsköpfigen Familie im Nordwesten Syriens. Er sagt:
"Die Auswirkungen auf mich und meine Gemeinschaft werden von enormer Tragweite sein. Wir haben in dieser Region keine Ressourcen. Es gibt keinen anderen Weg, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen, wie es möglich ist, mit der UN-Resolution."
Tanya Evans, IRC-Landesdirektorin für Syrien, ergänzt:
,,Hinter dieser Entscheidung stehen Hunderttausende Menschen, die die Auswirkungen der Entscheidung des UN-Sicherheitsrats zur Verlängerung oder Nichtverlängerung spüren werden. Idlib wird direkt davon betroffen sein. Die von uns unterstützten Menschen und viele unserer syrischen Mitarbeitenden und Partnerorganisationen haben schlichtweg Angst davor, den Zugang zu Hilfe zu verlieren, die ihnen hilft, ihre Familien am Leben zu erhalten, insbesondere nach dem verheerenden Erdbeben im Februar. IRC leistet seit 2012 Hilfe in Syrien, und in vielerlei Hinsicht war es noch nie so komplex. Die Zerstörung durch die Erdbeben hat die bereits hilfsbedürftigen Gemeinschaften und die humanitäre Hilfe jetzt überstrapaziert. Nach den Erdbeben wurden zahlreiche Menschen außerhalb von Lagern obdachlos, da mehr als 10.500 Gebäude in den Gouvernements Idleb und Nordsyrien eingestürzt sind. Heute leben 1,9 Millionen Menschen in Lagern oder selbst errichteten Niederlassungsorten und das unter schrecklichen Bedingungen, oft mit begrenztem oder keinem Zugang zu Gesundheitsdiensten, sauberem Wasser oder Strom. Jede Unterbrechung der humanitären Hilfe, jede Beschränkung der Hilfe ist hier undenkbar – es würde zusätzlichen Verlust von Leben und weiteres Leiden bedeuten.
Wir sind auch äußerst besorgt darüber, was es für die Fähigkeit der Gemeinschaften, das volle Spektrum der lebenswichtigen Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen, bedeutet, wenn die grenzüberschreitende Hilfe wegfällt. Der vom Sicherheitsrat autorisierte grenzüberschreitende Mechanismus ist entscheidend dafür, um die Impfauslieferung, Frühwarnsysteme und die Überwachung von Krankheitsausbrüchen und den Zugang zu Arzneimitteln sicherzustellen. In Nordwestsyrien wurden durch das Erdbeben mindestens 55 weitere Gesundheitseinrichtungen beschädigt, wobei 15 Gesundheitseinrichtungen den Betrieb eingestellt haben. Dabei war das Gesundheitssystem auch schon vorher fragil; ein Drittel aller Krankenhäuser und fast die Hälfte der Primärversorgungszentren in Syrien haben vor den Erdbeben nicht funktioniert. Da die Zahl der vermuteten Cholerafälle weiter steigt, sind wir äußerst besorgt über potenzielle Störungen der Reaktion oder des Zugangs zu Gesundheitsversorgung und -mitteln, die grenzüberschreitend bereitgestellt werden.”
Thomas Bamforth, stellvertretender Landesdirektor von CARE Türkei, sagt:
,,Die humanitären Bedarfe in Nordwestsyrien waren bereits vor den verheerenden Erdbeben im Februar besorgniserregend groß. Bedürftige Gemeinschaften in Nordwestsyrien wurden aufgrund des Konflikts bereits mehrfach vertrieben. Über 60 Prozent der Bevölkerung der Region sind Binnenvertriebene, von denen viele nun erneut durch das Erdbeben vertrieben
wurden. Diese Gemeinschaften sind bereits auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Wenn der Zugang zu humanitärer Hilfe nicht fortbesteht, wären die Auswirkungen katastrophal. Tatsächlich könnten sie eine weitere Fluchtbewegung auslösen und die Menschen dazu zwingen, riskante und gefährliche Wege aufzusuchen, um Zuflucht zu finden.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Resolution zur grenzüberschreitenden Hilfe verlängert wird, um sicherzustellen, dass humanitäre Organisationen wie CARE weiterhin Hilfe bereitstellen können. Wir rufen die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats dringend auf, sich für das Leben und das Wohlergehen der Menschen in Nordwestsyrien einzusetzen und die Verlängerung der Resolution zu unterstützen.”
IRC und CARE fordern den UN-Sicherheitsrat auf, seiner Verantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung in Syrien gerecht zu werden und die Verlängerung der Resolution zur grenzüberschreitenden humanitären Hilfe zu unterstützen. Nur so kann garantiert werden, dass die syrische Bevölkerung weiterhin die dringend benötigte Unterstützung erhält.