15. Dezember 2023 — Neun internationale und in Afghanistan tätige Nichtregierungsorganisationen rufen die internationale Gemeinschaft und humanitäre Geberregierungen dringend dazu auf, vertriebene Familien, die nach Afghanistan zurückgekehrt sind, stärker zu unterstützen. Das Überleben dieser Familien muss vor allem in den harten Wintermonaten gesichert sein. Damit sich die Krise nicht verschärft, müssen Aufnahmeländer darüber hinaus Afghan*innen im Ausland weiterhin Zuflucht gewähren, bis eine sichere und dauerhafte Rückkehr in ihr Heimatland möglich ist.
Vor drei Monaten kündigte Pakistan an, dass ausländische Staatsangehörige ohne Papiere das Land verlassen oder mit einer Abschiebung rechnen müssen. Dazu zählen auch geflüchtete afghanische Familien, die nun durch ihre gezwungene Rückkehr einer ungewissen Zukunft entgegensehen: Sie haben wenig bis gar keine Mittel, um den strengen Winter zu überleben, geschweige denn ein Leben wieder aufzubauen, warnen CARE International (CARE), der Dänische Flüchtlingsrat (DRC), INTERSOS, International Rescue Committee (IRC), Islamic Relief Worldwide (IRW), Mercy Corps, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC), Save the Children International und World Vision International (WVI).
80 Prozent derjenigen, die zurückkehren müssen, sind Frauen und Kinder, die auf der Rückreise nach Afghanistan erhöhten Risiken ausgesetzt sind. Mariam* hat fünf Kinder, lebt mit elf Familienmitgliedern auf engstem Raum und berichtet davon, wie schwierig es für sie und ihre Familie ist, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu decken: „Wir haben unsere gesamten Rücklagen, einschließlich dem Geld, das wir an der Grenze erhalten haben, für die Rückkehr nach Afghanistan und die Transportkosten verwendet. Ein paar Verwandte haben uns zwar geholfen, eine Unterkunft in Jalalabad zu finden, aber der Besitzer verlangt jetzt Miete, dabei haben wir nichts mehr. Wie sollen wir uns da überhaupt etwas zu essen leisten? Ich wünschte, wir könnten ein eigenes Haus haben und eine Arbeit finden. Ohne Unterstützung. Vor allem für uns Frauen sehe ich keine andere Option, als auf der Straße zu betteln oder unsere Kinder auf die Straße zu schicken, um irgendwie Einkommen zu generieren."
Afghanistan leidet noch immer unter den Auswirkungen von jahrzehntelangen bewaffneten Konflikten, Katastrophen wie den jüngsten verheerenden Erdbeben im westlichen Teil des Landes und der Wirtschaftskrise. Mit 29 Millionen Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, haben rückkehrende Familien in Afghanistan wenige bis gar keine Perspektiven.
Da die Mittel für die Unterstützung begrenzt sind, stehen das Überleben und das Wohlergehen der zurückkehrenden Familien auf dem Spiel. Der Mangel an Arbeitsplätzen und Einkommensmöglichkeiten hat schwerwiegende Auswirkungen darauf, ob Familien sich eigenständig versorgen und in die Gemeinschaft reintegrieren können, insbesondere bei Haushalten, wo die Frau allein für das Einkommen verantwortlich ist. Die Hilfsorganisationen fordern:
- Langfristige Lösungen, damit sich alle vertriebenen Afghan*innen in ihrem Heimatland wieder ein Leben aufbauen können
- Unterstützung, damit alle vertriebenen Afghan*innen in der Lage sind, sich auf einem Stück Land niederzulassen, ohne eine Zwangsräumung und weitere Vertreibung befürchten zu müssen
- Zugang für alle vertriebenen Afghan*innen zu Arbeit und Bildung
Corina Pfitzner, Geschäftsführerin von IRC Deutschland, sagt:
,,Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verhindern. Dennoch ist die humanitäre Hilfe für Afghanistan drastisch reduziert worden. Ich habe während meiner Reise nach Afghanistan im Oktober mit vielen Klient*innen und Menschen in der angrenzenden Provinz zu Pakistan, Nangarhar, gesprochen. Sie berichteten davon, wie schwer es ist ihren Lebensunterhalt zu sichern, und wünschen sich mehr direkte und langfristige Unterstützung. Gerade jetzt muss die humanitäre Hilfe für Afghanistan aufgestockt werden, um die rückkehrenden Menschen bestmöglich zu unterstützen.
Gleichzeitig braucht es endlich eine längerfristige Strategie für Afghanistan, um der Wirtschaftskrise als einer der größten Treiber der humanitären Krise zu begegnen. Hier sollte die Bundesregierung mehr in die strukturbildende Entwicklungszusammenarbeit investieren, die durch unabhängige Partnerorganisationen vor Ort umgesetzt wird. Nur so kann es für die vielen rückkehrenden Afghan*innen eine Chance für einen Neuanfang in Afghanistan geben.
Wir betrachten mit Sorge, inwieweit auch Afghan*innen von den Ausweisungen betroffen sind, die aus Pakistan über humanitäre Aufnahmeprogramme, Familiennachzug oder Resettlement in Drittstaaten wie Deutschland aufgenommen werden sollen. Durch diese Verfahren entstehen monatelange Wartezeiten vor Ort, was häufig die Dauer der VISA überschreitet, die damit ungültig werden. Eine VISA-Verlängerung, die nicht immer von den pakistanischen Behörden genehmigt wird, müssen die Afghan*innen selbst übernehmen. Die Bundesregierung sollte sich daher dafür einsetzen, dass Afghan*innen, die für das Bundesaufnahmeprogramm ausgewählt wurden, sich durch eine zügige Abwicklung der Verfahren und einer unmittelbaren Ausreise nur kurzfristig in Pakistan aufhalten müssen, damit sie nicht von Abschiebungen gefährdet sind.
Auch die Familiennachzugsverfahren sollten beschleunigt werden, um Abschiebungen abzuwenden. Den pakistanischen Behörden muss klar kommuniziert werden, dass die Personen bereits auf einer Warteliste zur Antragstellung stehen und eine Abschiebung das Verfahren gefährdet und weiter verzögert.”
*Der Name wurde zum Schutz der Klientin geändert.
Hinweise für die Redaktion:
- Zwischen dem 15. September und dem 9. Dezember 2023 sind insgesamt 456.590 Personen aus Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt. Diese Zahl wird in den kommenden Monaten voraussichtlich steigen.
- Am 26. September 2023 veröffentlichte das Innenministerium der pakistanischen Regierung den Plan zur Rückführung illegaler Ausländer. Dieser Plan beschreibt die vorgeschlagenen Rückführungs- bzw. Abschiebungsverfahren für Nicht-Staatsbürger*innen, die sich in Pakistan aufhalten und kein gültiges Visum besitzen, in drei Phasen, beginnend mit afghanischen Staatsangehörigen ohne Papiere, gefolgt von Inhaber*innen der Afghanistan Citizen Card (ACC) und Inhaber*innen des Proof of Registration (PoR). Dazu mehr hier: ADSP Briefing Note: Deported to what? Afghans in Pakistan - Oktober 2023
- 80 Prozent der Zurückkehrenden sind Frauen und Kinder, 48 Prozent sind Frauen und Mädchen und 13 Prozent sind Frauen, die allein für das Einkommen ihrer Familien verantwortlich sind.
- Von den schätzungsweise 4,4 Millionen afghanischen Geflüchteten, die in Pakistan leben, haben 1,73 Millionen keine legalen Aufenthaltspapiere.
- Das UNHCR hat im August 2021 eine Empfehlung zur ,,Nichtrückkehr” nach Afghanistan ausgesprochen. Sie wurde im Februar 2023 erneuert und fordert ein Verbot der zwangsweisen Rückführung afghanischer Staatsangehöriger, einschließlich Asylbewerber*innen, deren Anträge abgelehnt wurden.
- Im Oktober und November 2023 schwankte die Zahl der täglichen Ankünfte zwischen 9.000 und 10.000 Personen und stand damit im starken Gegensatz zum vorherigen Durchschnitt von etwa 300 Personen pro Tag vor der Ankündigung. Die IOM registrierte in der Nacht des Stichtags Spitzenwerte von bis zu 57.000 Personen.
- Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind derzeit 29 Millionen Afghan*innen im Land auf humanitäre Hilfe angewiesen, wobei 17,2 Millionen Menschen, d.h.40 Prozent der Bevölkerung, Schwierigkeiten haben, ihren Grundbedarf an Nahrungsmitteln zu decken (OCHA).
- Die Hilfsmaßnahmen stehen vor einer kritischen Finanzierungslücke, obwohl der humanitäre Bedarf nach wie vor groß ist. Kurz vor Jahresende ist der humanitäre Hilfsplan, welcher über 2,9 Milliarden Euro zur Unterstützung von mehr als 29 Millionen Menschen in Afghanistan vorsieht, nur zu 41,9 Prozent finanziert.