Kiew, Ukraine, 22. Februar 2023 — Ein Jahr nach Eskalation des Ukrainiekrieges zeigt eine aktuelle Studie von International Rescue Committee (IRC), dass fast alle befragten Familien Schwierigkeiten haben, ihre Grundbedürfnisse nach Wärme und Nahrung zu befriedigen. 58 Prozent der Befragten haben währenddessen mit psychologischen Traumata, Stress und Angst zu kämpfen. Es ist kein Ende des Konflikts in Sicht und 17,6 Millionen Menschen in der Ukraine sind mittlerweile auf humanitäre Hilfe angewiesen. Nach UN-Schätzungen haben die Bedarfe von 27 Prozent der Menschen "katastrophale" Zustände erreicht.
- IRC führte kürzlich in sechs Regionen der Ukraine eine Umfrage durch. Sie zeigt, dass die anhaltenden Kämpfe, die zunehmende Unsicherheit und neue sozioökonomische Faktoren, wie z. B. ein geringeres Einkommen, fast alle Befragten (99 Prozent) dazu veranlasst haben, auf negative Bewältigungsmechanismen zurückzugreifen.
- Über 60 Prozent der Menschen waren gezwungen, ihre Ersparnisse aufzubrauchen. 51 Prozent der Befragten reduzierten ihre Ausgaben für Lebensmittel und 30 Prozent mussten ihre Ausgaben für Medikamente kürzen.
- Geld, Gesundheitsdienste und Lebensmittel gehören zu den dringendsten Bedarfen der befragten Familien. 93 Prozent der Familien haben nicht die finanziellen Mittel, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.
- Angesichts der anhaltenden Wintertemperaturen fehlt es den binnenvertriebenen Befragten, sowohl in Sammelunterkünften als auch in Eigenheimen an Brennholz, warmer Kleidung und Decken, elektrischen Heizgeräten und Generatoren sowie an Bargeld, um die Nebenkosten zu bezahlen.
Seit fast einem Jahr stellt IRC gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen Bargeld, Schutz, Rechtsberatung und Soforthilfe für vertriebene Menschen und Familien bereit. IRC unterstützt Geflüchtete aus der Ukraine in ganz Europa und in den USA. Außerdem fordern wir die internationale Geberregierungen dazu auf, die humanitäre Hilfe in der Ukraine und in der gesamten Region weiterhin mit den notwendigen Mitteln zu unterstützen.
Marysia Zapasnik, IRC-Landesdirektorin für die Ukraine, sagte:
,,Ein Jahr nach Eskalation des Krieges zeigt unsere Umfrage, wie schwerwiegend die Folgen des Konflikts für die Menschen in der Ukraine sind. Angesichts des bitterkalten Winters gaben 27 Prozent der Befragten an, dass sie nicht über ausreichende Heizmöglichkeiten verfügen. 93 Prozent gaben an, dass sie ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Familien in der Ukraine brauchen Schutz, Sicherheit und Wärme, Zugang zu humanitärer Hilfe und wirtschaftliche Unterstützung.
Bis heute hat IRC zusammen mit unseren lokalen Partnerorganisationen über eine halbe Million Menschen mit lebenswichtiger humanitärer Hilfe erreicht. Unsere Unterstützung geht direkt an vertriebene Familien. Wir leisten auch Winterhilfe, wozu wir zum Beispiel Festbrennstofföfen sowie Decken und Heizgeräte verteilen. Unsere Teams bemühen sich, die weniger sichtbaren, aber nicht weniger schädlichen psychologischen Auswirkungen des Krieges zu bekämpfen, indem wir Frauen und Kinder dabei unterstützen, akute Ängste, Stress und Traumata zu bewältigen.
Hier können wir aber nicht aufhören. Die Welt darf auch ein Jahr nach Kriegsbeginn die Ukraine nicht vergessen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Geberregierungen ihre humanitären Maßnahmen fortführen, um die notleidenden Menschen innerhalb sowie außerhalb der Ukraine weiter zu unterstützen."
Corina Pfitzner, IRC Deutschland Interim Geschäftsführerin, kommentiert:
,,Der Krieg in der Ukraine hat unfassbares Leid über Millionen Menschen gebracht. Bislang hat die Bundesregierung über 12 Milliarden Euro für bilaterale Unterstützungsleistungen zur Verfügung gestellt und mehr als eine Millionen Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Wir begrüßen die schnelle und unkomplizierte Hilfe der Bundesregierung inkl. der Gewährung einer zweijährigen Aufenthaltserlaubnis mit Zugang zu Unterbringung, Gesundheitsversorgung und finanziellen Leistungen nach entsprechender Antragstellung bei der Ausländerbehörde für ukrainische Geflüchtete.
Diese Solidarität darf nicht kippen, denn die Menschen brauchen noch immer unsere Unterstützung. Es muss mehr Wohnraum bereitgestellt werden - der Zugang zum Arbeitsmarkt, zu den Schulen und Universitäten muss unbürokratisch möglich sein. Für Drittstaatangehörige aus der Ukraine bleibt die Situation weiter unsicher, da viele von ihnen nicht von der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz profitieren. Viele sind jetzt schon von Abschiebung bedroht, bei anderen laufen die Fiktionsbescheinigungen bald aus. IRC fordert die deutschen Behörden auf, schnell eine angemessene aufenthaltsrechtliche Perspektive für alle Menschen zu finden, die Schutz vor dem Ukrainekrieg suchen. Als starke Stimme innerhalb der EU muss sich die Bundesregierung weiterhin für eine gesamteuropäische Strategie der humanitären Aufnahme einsetzen, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert.
Wir dürfen aber andere globale Krisen nicht vergessen. Klimatische Veränderungen und politische Konflikte sind nur zwei der Gründe dafür, dass heute so viele Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, wie niemals zuvor.“
Hinweis an die Redaktion:
- Die IRC-Bedarfsanalyse vom Januar 2023 wurde unter 610 Personen aus sechs Regionen der Ukraine durchgeführt: Dnipro, Kharkiv, Mykolaiv, Odesa, Saporischschja und Kerson. Bei 64 Prozent der Befragten handelte es sich um Binnenvertriebene, bei 33 Prozent um Bewohner*innen der Aufnahmegemeinden und bei 3 Prozent um Ukrainer*innen, die ins Land zurückgekehrt sind.
- Die drei wichtigsten Bedürfnisse sind: Geld (94 Prozent), Gesundheit (49 Prozent) und Lebensmittel (41 Prozent).
- Die Befragten vermeldeten, dass sie ihre Bedürfnisse in folgenden Bereichen nur teilweise oder gar nicht befriedigen können: Lebensmittel (32 Prozent), Unterkunft (37 Prozent), Hygiene (28 Prozent), Haushaltsgegenstände/NFI (35 Prozent), Wasser (21 Prozent).
- 25 Prozent der befragten Haushalte gaben an, in irgendeiner Form eine Behinderung zu haben (Hör-, Seh- oder Gehbehinderung, Schwierigkeiten beim Erinnern oder bei der Selbstversorgung).
- In Europa leben über 8 Millionen Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind. 5,4 Millionen Menschen sind nach wie vor im Land binnenvertrieben.
- 17,7 Millionen Menschen benötigen derzeit in der Ukraine humanitäre Hilfe. 45 Prozent davon sind Frauen, 23 Prozent sind Kinder und 15 Prozent sind Menschen mit Behinderungen. Dazu gehören über 4 Millionen Ukrainer*innen, die ins Land zurückgekehrt sind, und 6,9 Millionen Einheimische in konfliktbetroffenen Gebieten.
- Fast zwei Drittel der Kinder in der Ukraine waren seit der Eskalation des Krieges gezwungen, ihr Zuhause in der Ukraine zu verlassen. Über 4 Millionen Kinder benötigen humanitäre Hilfe.
- Jeder dritte Haushalt in der Ukraine ist von Ernährungsunsicherheit betroffen - in Charkiw und Luhansk im Osten sogar jeder zweite.
- Die Reaktion von IRC in der Ukraine:
- Über 500.000 Menschen erreicht (Stand: Ende Februar)
- Mehr als 101.000 Menschen wurden mit Bargeld unterstützt, um ihre Grundbedürfnisse zu decken; 17 Mio. USD wurden in bar verteilt
- 82.671 Personen erhielten Notfallpakete mit grundlegenden Hilfsgütern
- 29.017 Menschen wurden im Rahmen unserer Winterhilfe unterstützt, darunter 500 Familien, die Festbrennstofföfen erhalten haben
- 260.535 Personen erhielten Notfallschutzleistungen
- 49 Gesundheitseinrichtungen wurden mit dringend benötigten medizinischen Gütern, Geräten und Arzneimitteln versorgt
- 7.374 Menschen erhielten dringende medizinische Hilfe