Warum ist das Humanitäre Völkerrecht wichtig?
Angriffe auf die Zivilbevölkerung und andere Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht passieren in Konflikten auf der ganzen Welt immer häufiger.
Angriffe auf die Zivilbevölkerung und andere Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht passieren in Konflikten auf der ganzen Welt immer häufiger.
International Rescue Committee (IRC) ist entsetzt über die steigende Zahl von zivilen Todesopfern und die Zerstörung von Wohnhäusern und öffentlicher Infrastruktur, die durch die anhaltende Gewalt in Israel und dem besetzten Palästinensischen Gebiet verursacht wird. Schon vor der jüngsten Eskalation waren 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza auf humanitäre Hilfe angewiesen und 95 Prozent hatten keinen Zugang zu sauberem Wasser.
IRC fordert alle Beteiligten auf, das Humanitäre Völkerrecht (HVR) einzuhalten, welches Regeln zum Verhalten und dem Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegen und bewaffneten Konflikten enthält. Die Missachtung dieser Gesetze in den Konflikten in der Ukraine, Syrien, Jemen, der Sahelzone in Afrika und auf der ganzen Welt haben bereits immensen Schaden angerichtet.
Wie genau funktioniert das Humanitäre Völkerrecht? Und warum ist es so wichtig? Erfahre hier die wichtigsten Fakten und warum diese Regeln weltweit für Konflikte gelten müssen.
Das Humanitäre Völkerrecht wird manchmal auch als „Kriegsrecht“ oder „Recht des bewaffneten Konflikts“ bezeichnet. Vereinfacht gesagt, besteht das HVR aus Regeln, die die Auswirkungen von Gewalt in bewaffneten Konflikten gering halten sollen – egal ob innerhalb eines oder zwischen Staaten. Es schützt die Zivilbevölkerung und Personen, die nicht oder nicht mehr an den Kämpfen beteiligt sind, darunter medizinisches und religiöses Personal, verwundete Kombattanten, Zivilinternierte und Kriegsgefangene.
Laut des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz versucht das HVR „einen Mindeststandard an Menschlichkeit inmitten von Konflikten zu bewahren, nach dem Leitprinzip: Auch im Krieg gibt es Grenzen“.
Auch im Krieg gibt es Grenzen
Das HVR beruht auf Abkommen wie den Genfer Konventionen (die nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen wurden) und ihren Zusatzprotokollen sowie auf dem „Völkergewohnheitsrecht“ (etablierte Praxis, die nicht in Abkommen festgeschrieben, aber allgemein als rechtliche Verpflichtung anerkannt wird).
Das Humanitäre Völkerrecht verbietet vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder zivile Infrastrukturen wie Krankenhäuser können daher ein Kriegsverbrechen darstellen. Es verbietet außerdem Angriffe auf militärische Ziele, bei denen keine angemessenen Vorkehrungen getroffen werden, um Schäden an der Zivilbevölkerung zu vermeiden.
Das HVR verbietet Folter und Misshandlung von inhaftierten Personen, Angriffe auf humanitäre oder medizinische Helfer*innen und den Einsatz bestimmter Waffen wie chemischer oder biologischer Waffen. Es regelt außerdem, welche Verpflichtungen Konfliktparteien haben, humanitären Organisationen den Zugang zu betroffenen Menschen zu ermöglichen.
Dies sind nur einige Beispiele dafür, was das HVR beinhaltet. Erfahre mehr über Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht.
Das HVR gilt immer, wenn es sich um einen bewaffneten Konflikt handelt. Es gibt Regeln für Konflikte zwischen zwei oder mehr Staaten und andere für Konflikte zwischen Akteuren innerhalb eines Staates, wie zum Beispiel in einem Bürgerkrieg oder einem Konflikt mit nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Das HVR gilt für alle Konfliktparteien, unabhängig davon, wer den Konflikt begonnen hat.
Das HVR gilt für alle Konfliktparteien, unabhängig davon, wer den Konflikt begonnen hat.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das HVR durchzusetzen.
Bestimmte schwere Verstöße gegen das HVR können vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag untersucht werden, und gegen die verantwortlichen Personen vorgegangen werden. Die Strafverfolgung kann auch vor einigen inländischen Gerichten erfolgen, die die „universelle Gerichtsbarkeit“ übernommen haben. Damit ist gemeint, dass Gerichte beschließen können, eine Straftat zu verfolgen, die außerhalb ihres Landes von Personen begangen wurde, die nicht die Staatsangehörigkeit des Landes besitzen, wo jedoch die Straftat schwer genug ist, um überall strafrechtlich verfolgt zu werden. (IRC ermutigt Staaten dazu, von der universellen Gerichtsbarkeit für die Verfolgung von Kriegsverbrechen Gebrauch zu machen.)
Andere Maßnahmen zur Erfüllung der Rechenschaftspflicht sind Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof, Sanktionen, internationale Überwachungs- oder Untersuchungsmechanismen und inländische Zivilklagen. Nach dem Ende eines Konflikts kann die Erfüllung der Rechenschaftspflicht in Form eines Prozesses, der sogenannten Übergangsjustiz, erfolgen, der darauf abzielt, begangenes Unrecht aufzuarbeiten, und eine Kombination aus Strafverfolgung, Wahrheitskommissionen und Wiedergutmachung umfassen kann.
Viel zu oft wird die Rechenschaftspflicht nicht erfüllt und Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht werden weiterhin zugelassen. IRC ruft erneut dringend dazu auf, das „Zeitalter der Straflosigkeit“, in dem Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung als optional angesehen werden, zu beenden.
IRC und andere Hilfsorganisationen fordern in der Ukraine und anderen Konfliktgebieten einen „humanitären Zugang“. Das bedeutet, dass Hilfsorganisationen alle betroffenen Menschen erreichen können.
Das HVR besagt, dass dort, wo Konfliktparteien nicht in der Lage sind, die Zivilbevölkerung und Menschen zu versorgen, die nicht mehr am Konflikt beteiligt sind, humanitäre Organisationen den betroffenen Menschen unparteiisch Hilfe leisten können. In diesem Fall kann der Staat die Zustimmung nicht „willkürlich“ und ohne guten Grund verweigern. Bei einer Besetzung durch einen fremden Staat müssen Hilfsmaßnahmen genehmigt werden, wenn die Zivilbevölkerung nicht ausreichend versorgt ist.
Es reicht nicht aus, ein Hilfsangebot anzunehmen. Damit die Hilfe wirksam sein kann, müssen Helfer*innen und Hilfsgüter die Betroffenen auch erreichen können. Humanitäre Maßnahmen dürfen nur vorübergehend und aus unmittelbarer militärischer Notwendigkeit blockiert werden.
Präsident und CEO von IRC, David Miliband warnt vor einer „brutalen, zum Standard gewordenen Kriegsführung vieler Kombattant*innen auf der ganzen Welt“.
Erfahre mehr über aktuelle Konflikte, in denen das HVR bedroht ist und verletzt wird:
IRC ist zutiefst besorgt über die dramatische Eskalation der Gewalt und trauert um die vielen zivilen Opfer in Israel und im besetzten Palästinensischen Gebiet. Bei der Eskalation der Gewalt im Oktober 2023 wurden in Gaza mehr als 3.478 Menschen getötet und 12.065 verletzt. In Israel wurden mehr als 1.228 Menschen getötet und über 3.000 verletzt.
Schon vor dieser Eskalation benötigte die Hälfte der Bevölkerung im besetzten Palästinensischen Gebiet humanitäre Hilfe und mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza waren darauf angewiesen. Die humanitären Bedingungen verschlechtern sich jetzt noch weiter. IRC prüft derzeit die Bedarfe und Kapazitäten vor Ort, um sicherzustellen, dass lebensnotwendige humanitäre Hilfe die betroffene Zivilbevölkerung erreicht.
IRC unterstützt nachdrücklich den Aufruf des UN-Generalsekretärs, das Humanitäre Völkerrecht einzuhalten, die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur um jeden Preis zu schützen, der Zivilbevölkerung in Gaza uneingeschränkten Zugang zu Hilfsgütern zu gewähren und die internationale Gemeinschaft zu mobilisieren, sofortige humanitäre Hilfe für die Betroffenen zu leisten.
Während der Krieg in der Ukraine weitergeht, werden immer mehr Zivilist*innen verletzt und getötet. Etwa 5,1 Millionen Menschen wurden innerhalb der Ukraine vertrieben, während mehr als 6,2 Millionen ukrainische Geflüchtete aus dem Land geflohen sind.
Die Angriffe richteten sich gegen zivile Infrastruktur. Es wurden über 1.000 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und 2.500 Angriffe auf Schulen registriert.
Fast 10.000 Zivilist*innen wurden getötet.
Globaler Leiter für Krisenanalysen von IRC, George Readings warnt: „Bei einer Eskalation könnten Waffen und Taktiken eingesetzt werden, die noch mehr zivile Opfer fordern. Wir haben ähnliche Entwicklungen in anderen Konflikten gesehen, bei denen Zivilist*innen den höchsten Preis für Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht zahlten, die zudem ungestraft blieben.“
Erfahre mehr über die Arbeit von IRC in der Ukraine.
Nach 11 Jahren Konflikt ist Syrien „zu einem Paradebeispiel geworden, wo Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht zur Norm geworden sind“, sagt David Miliband.
Die Kämpfe in Syrien bringen weiterhin verheerende Zerstörung über die syrische Bevölkerung: Hunderttausende wurden getötet oder verletzt, Krankenhäuser, Schulen und andere wichtige Infrastrukturen wurden zerstört. Obwohl die Gesundheitseinrichtungen und das Gesundheitspersonal nach dem HVR geschützt sind, hat die Interessengruppe Physicians for Human Rights (PHR) seit 2011 mehr als 600 Angriffe auf 400 Gesundheitseinrichtungen in Syrien verzeichnet. PHR hat außerdem die Tötung von mindestens 945 medizinischen Fachkräften seit Beginn des Konflikts dokumentiert, sowie die systematische Inhaftierung und Folter von Gesundheitsfachkräften. Laut eines IRC-Berichts aus dem letzten Jahr gaben 81 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitssektor an, eine*n Kolleg*in oder Patient*in zu haben, der*die bei einem Angriff verletzt oder getötet wurde.
Fast die Hälfte aller Gesundheitseinrichtungen (und die Hälfte der Abwassersysteme) in Syrien sind derzeit nicht funktionsfähig und viele weitere sind reparaturbedürftig. Die Zerstörung hat die Kapazitäten des Landes, mit der COVID-19-Pandemie umzugehen, stark eingeschränkt. Syrien ist mit Hunger, Dürre und einer kollabierenden Wirtschaft konfrontiert, während die humanitären Bedarfe eine Rekordhöhe erreicht haben.
Die Verstöße gegen das HVR in Syrien wurden von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Menschenrechtsgruppen und internationalen Instanzen genau dokumentiert, doch es wurde wenig unternommen, um die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen.
Erfahre mehr über die Arbeit von IRC in der Syrien.
Der Krieg in Jemen ist ebenfalls gekennzeichnet durch Angriffe auf Zivilist*innen und kritische Infrastrukturen.
Trotz des Waffenstillstands und des starken Rückgangs der Gewalt seit Anfang April haben fast sieben Jahre Konflikt zu einer der schlimmsten humanitären Krisen weltweit geführt.
229 Schulen und 148 Krankenhäuser wurden in Jemen seit 2015 durch den Konflikt beschädigt oder für militärische Zwecke genutzt. Trotz der Tatsache, dass mehr als 20 Millionen Jemenit*innen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, haben alle Konfliktparteien den Zugang zu dieser essentiellen Hilfe eingeschränkt – ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.
Das Waffenstillstandsabkommen vom April erzielte eine große Veränderung gegenüber dem Anstieg der Gewalt im Dezember und Januar 2021, sodass April 2022 der erste Monat ohne Luftangriffe seit über sieben Jahren (Februar 2015) war.
Der Waffenstillstand hat zwar die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung deutlich verringert, doch fehlt es weiterhin an einer Erfüllung der Rechenschaftspflicht. Im Oktober 2021 wurde eine der einzigen Methoden zur Rechenschaft abgeschafft. Die 2017 vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzte Group of Eminent Experts (GEE) war das einzige internationale, unparteiische und unabhängige Gremium, das über Rechtsverletzungen und -missbrauch in Jemen berichtete. Kurz nach seiner Auflösung stieg die Zahl der Bombenangriffe der saudisch-geführten Koalition um 43 Prozent. Die Zahl der zivilen Opfer stieg sprunghaft an; Januar 2022 war der Monat mit der höchsten Gewalt im Land seit fünf Jahren.
„Die Auflösung der GEE ist ein schreckliches Beispiel dafür, dass politische Interessen Vorrang vor den Rechten und der Sicherheit der Zivilbevölkerung bekommen, vor dem Völkerrecht selbst und vor der Straflosigkeit, die so viele der schlimmsten Konflikte der Welt kennzeichnet, auch in Jemen“, sagt David Miliband.
Zudem droht der Krieg in der Ukraine die Hungerkrise in Jemen noch weiter zu verschärfen. Jemen importiert 22 Prozent des Weizens aus der Ukraine und eine Unterbrechung dieser Versorgung könnte dazu führen, dass die Lebensmittelpreise für noch mehr jemenitische Familien unerschwinglich werden.
Erfahre mehr über die Arbeit von IRC in Jemen.
Die Sahelzone ist eine Region in Afrika, die unter anderem Teile der Länder Burkina Faso, Mali und Niger umfasst. In allen drei Ländern hat die Gewalt in den letzten Jahren stark zugenommen, da Milizen und andere nichtstaatliche bewaffnete Akteure Zivilist*innen angreifen.
Vor allem in Burkina Faso wurden 2021 einige der tödlichsten Angriffe auf die Zivilbevölkerung in den letzten Jahren verübt – die Zahl war um 800 Prozent höher als im Jahr 2017. Unter diesen Bedingungen sind die Menschen gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen. Allein in Burkina Faso gibt es 1,4 Millionen Binnenvertriebene.
Auch in Niger gab es zivile Opfer. Im März 2021 wurden bei drei Angriffen bewaffneter Gruppen innerhalb von zehn Tagen mindestens 200 Menschen getötet, darunter mindestens 28 Kinder.
„Zivilist*innen, und besonders Kinder, dürfen niemals das Ziel von Gewalt sein. Dieses Grundprinzip muss in Konflikten von allen Beteiligten respektiert werden“, sagt Aboubakar Pefoura, leitender Nothilfekoordinator für IRC Niger, in einer Stellungnahme zu den Angriffen.
Erfahre mehr über die Arbeit von IRC in Niger und Mali.
David Miliband unterstreicht die Notwendigkeit zur Wachsamkeit, wenn es um Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht weltweit geht.
„Es ist essentiell, dass die Zivilbevölkerung, die ohnehin großen Schaden nimmt, nicht auch noch mit sinkender Aufmerksamkeit und Ressourcen konfrontiert wird“, sagt er. „Das Gegenteil sollte der Fall sein. Die Unterstützung für Menschen aus der Ukraine sollte nicht auf Kosten derjenigen aus Afghanistan, Jemen, Äthiopien oder Syrien gehen, wo das Vorgehen genauso brutal ist und das Kriegsrecht ebenso missachtet wird.“
Die Unterstützung für Menschen aus der Ukraine sollte nicht auf Kosten derjenigen aus Afghanistan, Jemen, Äthiopien oder Syrien gehen
Zu oft haben Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht keine Konsequenzen. IRC ruft dringend dazu auf, das Zeitalter, in dem Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung als optional angesehen werden, zu beenden.
IRC fordert mehr Unterstützung für humanitäre Helfer*innen, die betroffene Menschen in Krisengebieten erreichen müssen, aber von Konfliktparteien oft daran gehindert werden. In seinem Essay für das Time Magazine sprach sich Miliband dafür aus, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein unabhängiges Gremium zur Überwachung des humanitären Zugangs in der Ukraine einsetzt.
Miliband rief außerdem dazu auf, diese Bemühungen weltweit durch die Gründung einer Organisation zum Schutz des humanitären Zugangs zu verstärken. Diese wäre dafür zuständig, die „Unterbindung der humanitären Hilfe sowie ihren Einsatz als Waffe“ durch die Beteiligten in Konfliktgebieten aufzudecken.
Dieses „Zeitalter der Straflosigkeit“ muss ein Ende haben.
Es ist entscheidend, dass wir Menschen auf der ganzen Welt unterstützen, die mit Konflikten und Krisen konfrontiert sind.
Bitte spende jetzt um IRC dabei zu unterstützen, lebensnotwendige Hilfe zu leisten.